ADHS trifft Autismus: Dr. Mark Benecke über ein Phänomen namens »AuDHS«

Quelle: ADHS-Journal, 30. Juli 2025

Er machte die wissenschaftliche Forensik einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Seine Vorträge füllen seit vielen Jahren ganze Säle und zeichnen sich durch seine humorvolle Art aus, mit der er von seinen Mordermittlungen, von Verwesung oder auch Vampirismus erzählt. Der Kölner Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke ist Deutschlands einziger öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für biologische Spuren und untersuchte unter anderem Adolf Hitlers Schädel. Darüber hinaus engagiert er sich im Vorstand des Vereins White Unicorn für Menschen mit Autismus und hat erkannt: Autismus und ADHS haben viel gemeinsam und treten oft gemeinsam auf. Das ADHS-Journal sprach mit ihm darüber.

ADHS-Journal: Du engagierst dich seit Jahren leidenschaftlich für das Thema Autismus, setzt dich inzwischen zunehmend auch mit ADHS auseinander und betonst die Gemeinsamkeiten, die Überschneidungen. Kannst du die wesentlichsten einmal nennen?

Dr. Mark Benecke: Vielleicht besonders leicht zu erkennen: die »Vergesslichkeit«. Bei eher Richtung ADHS gehenden Menschen wären das beispielsweise die typischerweise liegen gebliebenen oder urplötzlich »verschwundenen« Gegenstände oder Vorhaben. Bei eher autistischen Menschen geschieht Ähnliches, wenn Überforderung durch Umweltreize beziehungsweise zu vielen Anfragen eintritt: Alles kommt durcheinander, geht verloren, wird vergessen.

Es gibt noch sehr viel mehr. Ich will nur noch drei Gemeinsamkeiten nennen: Tiefes Einfühlungsvermögen in andere, das sich aber nicht immer so äußert, wie angeblich Normale es gerne hätten. Harte Abneigung gegen Lügen. Und natürlich ausufernd erscheinende Lieblingsbeschäftigungen, sehr ausgeprägte Essensvorlieben und dergleichen Vertiefungen und »Tunnel«.

Es ist noch gar nicht lange her, da schlossen sich Autismus und ADHS als Diagnose gegenseitig aus. Das hat sich grundlegend geändert. Sogar von AuDHS ist manchmal die Rede. Was genau steckt dahinter?

Meine Frau Ines meinte gestern, als ich unbedingt noch eine Runde mit dem Rad fahren »musste«, also wollte, und sie lieber zum Arbeiten mit dem Laptop ins Bett ging (wir haben privat keine Couch oder Sessel oder Ähnliches): »Was wäre, wenn Autistinnen und Autisten ADHSlerinnen/ADHSler mit wenig Muskelspannung sind?«

Ich würde es eh aufweiten: Wenn es schon »neuridivergente« Menschen geben soll – ich habe bisher noch nie eine »neurotypische« Person getroffen, glaube ich –, dann ist das Ganze eine Wolke mit vielen Achsen menschlicher, eingeschlossen darin auch körperlicher Eigenschaften darin. Natürlich überlappt sich darin vieles, auch mit Posttraumastörungen, die sich leider sehr viele Neurodivergente »einfangen«, schlechtes Lesen und Schreiben, Synästhesie und Vielem mehr.

Kann man ADHS denn von Autismus überhaupt noch klar abgrenzen? Oder ist jeder ADHSler gleichzeitig Autist und jede Autistin hyperaktiv und/oder aufmerksamkeitsgestört?

Wo verläuft die Grenze? Und wo liegt die Grenze zum »Normalen«? Das ist unscharf, siehe oben.

Den Störungs-Begriff würde ich nicht verwenden, da er beliebig ist. Meist stören sich ja andere an Wünschen und Gewohnheiten, die ihnen recht egal sein könnten: »Iss nicht immer dasselbe«, »warum musst du den Pfirsich schälen, die Schale ist so gesund«, »so kannst du nicht sitzen, man sitzt anders«, »das im Internet sind keine echten Freundinnen«, »mich stört das helle Licht nicht, daher dimme ich es nicht herunter«, »es ist normal, über das Wetter zu plaudern, aber du darfst auf keinen Fall vertiefte Informationen zum Ablauf und zur Entstehung von Wetterereignissen liefern«, »jetzt machen wir aber nur wegen dir nicht noch eine weitere Pause«, »bitte hör auf, mit den Kindern auf der Familien-Feier zu spielen, und setz dich zu Oma und Opa« und so weiter.

Viele Erwachsene, die erstmals von ihrer Neurodivergenz erfahren, sind geradezu erleichtert, weil die Diagnose nicht selten so ziemlich alles, was in ihrem Leben schiefgelaufen ist, erklären kann. Oft haben sie bis dahin schon einen langen Leidensweg hinter sich, weil ihre Symptome als psychische Krankheit fehlgedeutet wurden und nicht als neurologische Besonderheit wie ADHS und Autismus. Was empfiehlst du zur besseren Sensibilisierung?

Sei ehrlich zu dir selbst! Wenn die Merkmale aus den ganzen Neurodivergenz-Memes auf dich zutreffen, dann bist du eine oder einer von uns! Die »amtliche« Diagnose kann dir helfen; aber wenn du keine möchtest und aus welchem Grund auch immer gut klarkommst, dann lass es.

Welche Symptome sollten sich Betroffene und Therapeutinnen oder Therapeuten genauer ansehen? Was wird immer wieder übersehen, wodurch es zu den zahlreichen Fehldiagnosen kommt?

In die Augen schauen … Mein Gott, ich kann es nicht mehr hören. Natürlich können Neurodivergente anderen in die Augen schauen! Ich habe es beispielsweise als Kind durch Zufall in einem ganz allgemeinen Buch über Vorträge und gesellschaftliche Formen gesehen (so was gab es früher in vielen Haushalten): »Schau anderen, aber nicht zu lange, genau zwischen die Augen. Nicht zwischen den Augen hin und her pendeln.« Mache ich seitdem so. Die Frage ist, ob es anstrengend ist, nicht, ob es möglich ist. Leider höre ich das auch heute noch fast täglich von Autistinnen und Autisten, die wohl zu einer unerfahrenen Diagnosestelle gegangen sind.

Und natürlich Überforderung: Die ist echt. Und sie kann zahlreiche Quellen haben. Also erst mal zuhören, bitte!

Ich möchte aber auch erfahrene Diagnostikerinnen und Diagnostiker sehr stark loben: Die lassen sich nicht von Annahmen leiten, sondern von modernen Erkennungsmerkmalen und messbarer Erfahrung. Die Erleichterung nach einer zutreffenden, nicht irgendeiner Neurodivergenz-Feststellung ist für die Untersuchten superwichtig. Sie ist nur dann erleichternd, wenn sie genau stimmt, nicht »irgendwie«.

Beide sogenannten Störungen werden trotz aller Aufklärung weiterhin stark stigmatisiert. Wie könnte man das deiner Meinung nach ändern?

Ich kenne schlechtes Gerede darüber nur vom Hörensagen. Das liegt vermutlich daran, dass ich Aussagen, die auf Meinungen statt auf Messungen beruhen, nicht zuhöre. Ich habe nur ein Leben.

Vielfach ist ja sogar von vermeintlichen Modekrankheiten die Rede, weil eine objektive Diagnose gar nicht möglich sei. Was sagst du Menschen, die das behaupten?

»Zeig mir die wissenschaftliche, neue Studie dazu!« Bisher habe ich keine dazu gesehen.

Wird es denn in absehbarer Zeit eindeutige Diagnosemöglichkeiten geben, Stichwort KI-gestützte Netzhautscans oder spezielle MRT-Untersuchungen?

Denke ich schon: Es könnte ein großer Markt und damit zum Geld verdienen interessant sein. Aus Menschlichkeit wird’s wohl nicht zu Ende entwickelt werden.

Glaubst du, dass auch die Ursachen und nicht nur die Symptome irgendwann einmal behandelt werden können, mit oder ohne Medikamente?

Können sie: indem die Umwelt sich freundlich verhält! Viele »Symptome« sind nur Überlastungszeichen, die jeder Mensch früher oder später bei Stress von außen entwickelt. Bei Neurodiversen geht es halt schneller oder durch andere Reize.

Bei ADHS fühlen sich viele auch durch die bekannten Aufputschmittel entlastet, die verschrieben werden. Muss man ein bisschen ausprobieren und schauen, ob es wirklich erleichternd wirkt; das ist aber öfter der Fall.

Ansonsten: Genau zuhören, was die neurodivergenten Menschen sagen oder aufmalen oder aufschreiben und wie sie den Stress mindern. Das ist keine Meinung, sondern auch von unserem Verband »White Unicorn« zusammen mit der Goethe-Universität in Frankfurt/Main, der Humboldt-Universität in Berlin, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und der »Aktion Mensch« mit Tausenden von befragten »Normalen« und Neurodivergenten erforscht.

Das kann auch anstrengend sein, wenn die Kids sich – eher bei mehr autistischen Menschen – beispielsweise nicht die Zähne putzen oder sich nicht waschen oder immer dieselbe Hose anziehen wollen. Es gibt dafür aber einen guten (!) Grund, das wird megaoft vergessen: Der Geschmack der Minze in der Paste, die Härte der Borsten, das Vibrieren der elektrischen Bürste – muss ja alles nicht sein, es geht auch ohne das alles mit anderer Paste, anderer Bürste und ohne Strom – zack!

Oder die »Ungeduld« bei eher in Richtung ADHS gehenden Menschen: Oft haben sie tatsächlich schon nach vier Worten verstanden, worum es geht. Ist doch okay! Wenn sie das beweisen können, dann lass sie doch einfach in Ruhe und versuch nicht, ihnen dein Lernprogramm für »Normale« aufzudrücken.

Vielen lieben Dank für das Gespräch, Mark!

Erwartungsmanagement als Schlüssel für partizipative Forschung – Kritische Reflexion in Theorie, Empirie und Erleben aus dem Forschungsprojekt Schule und Autismus (schAUT)

Quelle: Gemeinsam leben, DOI: 10.3262/GL2403173

Lukas Hümpfer-Gerhards, Jana Kunert, Stephanie Fuhrmann, Stina Hartwieg,

Vera Moser, Mark Benecke, Michel Knigge & Sabine Schwager

Der komplette Artikel als .pdf

Im Rahmen von partizipativer Forschung ist die wechselseitige Aushandlung der Erwartungen der beteiligten Forscher:innen eine Voraussetzung für die Herstellung eines gemeinsamen Referenzrahmens und damit eine zentrale Gelingensbedingung des Projekts. Damit ist nicht nur der Austausch über Fakten und Ziele gemeint, sondern insbesondere auch eine Verständigung über die jeweils individuellen handlungsleitenden Motive. Denn partizipative Forschung ist von unterschiedlichen Erlebens- und Erwartungshorizonten geprägt, die ausschlaggebend für die Zusammenarbeit sind. Obwohl dies im Sinne von Teilhabe vor dem Hintergrund des Prinzips ‚Nothing about us, without us‘ eine Stärke dieses Forschungsstils beschreibt, birgt es gleichsam Konfliktpotenzial, insbesondere was das Verhältnis von Erkenntnis- und Wirkungsinteresse betrifft. Zur Beschreibung der Prozesse zur Herstellung einer gemeinsamen Handlungsfähigkeit in einem Forschungsprojekt schlägt dieser Artikel, basierend auf den Ergebnissen einer ethnografischen Beobachtung des partizipativen Forschungsprojekts schAUT (Barth 2023), den Begriff Erwartungsmanagement vor. Der Begriff wird theoretisch und empirisch beschrieben, sowie durch eine praxisbezogene Eingrenzung umrissen. Der Artikel schließt mit der Aufstellung eines Stufenmodells von Erwartungsmanagement im Kontext partizipativer Forschung.

ADHS & Autismus: Netzhaut-Erkennung

Kleine Teile des Textes wurden verwendet auf → https://www.gamestar.de/artikel/adhs-diagnose-ki-netzhautbilder-auge-neurodivergenz,3432156.html 

1. Warum ausgerechnet die Netzhaut? Können Sie unseren Lesern in einfachen Worten erklären, warum sich gerade die Retina eignet, um neurodivergente von neurotypischen Menschen zu unterscheiden?

Es war eine wirklich abgefahrene Idee der Kolleginnen und Kollegen, in die Augen zu schauen. Uns ist klar, dass das Gehirn unsere Persönlichkeit ist. Dazu gibt es massenhaft Studien, auch unter Autistinnen und Autisten. Als nun die Augen von Autistinnen und Autisten angesehen wurden (klick hier und hier) fanden das besonders meine ärztlichen Kolleginnen und Kollegen zunächst "umstrtitten", obwohl die künstliche Intelligenz ja eine supergenaue Trefferzahl hinlegte. Aber es hätte ja an fehlenden Massen-Tests gelegen haben können.

Biologisch fand ich es nicht so merkwürdig, denn "die Dicke der ellipsoiden Zone (EZ) mit Zapfen-Photorezeptoren war bei ASD signifikant erhöht; die großkalibrigen arteriovenösen Gefäße der inneren Netzhaut waren bei ASD signifikant reduziert; diese Veränderungen in der EZ und den arteriovenösen Gefäßen waren am linken Auge signifikanter als am rechten Auge" — das ist ja schon deutlich.

In der ganz neuen ADHS-Studie, in der über dreihundert Erwachsene und Kinder untersucht wurden, war die Idee, dass sich Dopamin, das ja viele "seelische" Wirkungen hat, auch auf das Entstehen und Wachsen der Netzhaut im Auge auswirkt. Vermutlich hängt das mit der durch Dopamin veränderten Durchfluss-Menge von Blut, vielleicht auch mit der ebenfalls von Dopamin beeinflussten Durchlässigkeit der Butgefäße zusammen. 

Da die Dopamin-Sache noch untersucht wird, haben sich die Kolleginnen und Kollegen gesagt: Warum nicht einfach schauen, was wie im Auge sehen? Die genaue Entstehungsgeschichte der möglichen Netzhaut-Veränderungen können wir ja auch später untersuchen. 

Hinzu kommt, dass gerade im Berich von Künstlicher Intelligenz, Deep Learning, in Laboren und der Wissenschaft überhaupt superviele Autistinnen und Autisten arbeiten. Das mag ein weiterer Anreiz gewesen sein, einfach mal zu gucken anstatt zu denken.

 2. Wie würden Sie den derzeitigen Standard zur Diagnose von Autismus und ADHS beschreiben? 

Es gibt derzeit keinen Standard. Das ist sehr gute Forschung, keine allgemein zugelassene Anwendung.

Was kann ein solches, auf Biomarkern basierendes Verfahren, für die Diagnostik für potenziell Neurodivergente verändern?

Dass ihnen endlich — wie auch den ME/CFS-Patientinnen und -Patienten — nicht mehr von Menschen, die nichts davon verstehen, aber auch die Messungen nicht anschauen, gesagt wird, dass sie sich das alles einbilden oder, noch beknackter, es eine Mode-Erscheinung sei. 

3. Sehen Sie ein generelles Potential in solchen neuen Verfahren, unseren gesellschaftlichen Blick auf Autismus und ADHS zu verändern?

Auf den Autismus-Vorträgen und -Kanälen von meiner Frau und mir ist richtig was los, wenn es um die Eigenschaften und die Erkennung von Neurodiversität geht. Ich finde es daher gut, dass die saubere Erkennung immer besser gelingt. 

Der nächste Schritt ist, die Trennung zwischen angeblich normalen und dazu so verschieden dazu wirkenden Menschen aufzugeben. Nicht nur Autismus und ADHS sind ein Spektrum, wie es in der neuesten Fassung der Liste von Krankheiten (ICD-11) auch super dargestellt ist, sondern auch die angebliche Normalität. Wie wir in Köln sagen: "Mer sin all Mische": Wir sind alle Menschen mit Stärken und Schwächen. 

Gerade Autistinnen und Autisten sind überstark in Computerzeugs, Ingenieurs- und Natur-Wissenschaften vertreten, ADHSler:innen in der Bühnen-Kunst und AuDHSlerinnen vielleicht noch in vielem mehr. Das hat schon Hans Asperger gewusst, ich habe das in den Tiefen der Autismus-Bibliothek in London selbst ergründet. 

Es ist also schon mal prima, wenn Menschen mit Spezial-Interessen das in Ruhe machen können, was sie eben können. Hilft allen. 

Außerdem können die Angehörigen lernen, nicht das Kind so zu biegen, wie die Nachbarn es gerne hätten, sondern es leben zu lassen, wie es möchte. Das macht auch den Angehörigen das Leben leichter, die oft tausendmal verzweifelter sind als die Autistinnen und Autisten, weil sie irgendwas erzwingen möchten, was nicht geht und nicht sinnvoll ist. 

Unser Forschungs-Team hat in den letzten sieben Jahren schon heraus gefunden, wie wir es den Schülerinnen und Schülern leichter machen. jetzt führen wir eine fette Untersuchung mit Kindergarten-Kids dazu durch.

Und: Wer stärkere Schwierigkeiten hat, erhält mehr Unterstützung. So wie bei Knochenbrüchen oder Grippe auch.

Autisten können meist eins: sich unsichtbar machen

Quelle: t-online, 1. April 2025

Sechsjähriger seit einer Woche vermisst

Wie sucht man ein autistisch veranlagtes Kind, das sich vermutlich versteckt hält? Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke erklärt, warum die Suche schwierig ist, und spricht über mögliche Gefahren.

Seit Dienstag, 14 Uhr, sucht ein Eurofighter der Bundeswehr nach dem seit einer Woche vermissten Sechsjährigen aus Weilburg. Pawlos war am Dienstag, dem 25. März, aus seiner Förderschule davongelaufen. Seitdem fehlt von ihm jede Spur. Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke sagt, die Wahrscheinlichkeit, den Jungen noch lebendig zu finden, lasse sich nicht einschätzen.

Wenn Kinder weglaufen, sind sie den unterschiedlichsten Gefahren ausgesetzt, die für sie tödlich enden können. Tödlich seien vor allem Verdursten, Erkrankungen, seltener auch Erfrieren, Ertrinken oder Autounfälle, erklärte Benecke t-online. Ob autistisch veranlagte Kinder im Fall von Hunger oder Durst um Hilfe bitten würden, sei schwer einzuschätzen. Manche Autisten sprächen sehr ungern. In ungewohnten Umgebungen sprächen sie womöglich gar nicht.

"Irgendwann wird es ihnen zu viel"

Die Behörden gehen aktuell davon aus, dass der Kleine sich bewusst versteckt. "Austistinnen und Autisten können meist eins: sich unsichtbar machen. Das lernen sie ihr Leben lang, weil ihre Umgebung sie oft nicht versteht und dadurch laufend in schwierige Lagen bringt." Doch wie sucht man ein autistisches Kind, das nicht gefunden werden will? "Autistinnen und Autisten nehmen sehr viel wahr, viel mehr, als es manchmal scheinen mag. Daher können sie sich oft gut verstecken", sagt Benecke. Es wurde bereits versucht, Pawlos mit in der Stadt aufgehängten bunten Luftballons aus seinem Versteck zu locken. Bislang ohne Erfolg. Da helfe nur, wie bei einer Spurensuche alles haarklein zu durchkämmen, sagt Benecke, auch Wärmebildkameras können manchmal helfen.

Laut dem Kriminalbiologen besteht die Möglichkeit, dass der Junge nicht in seine frühere Umgebung zurückkehren möchte, weil sie ihm vielleicht unangenehm ist.

"Wir haben in einer großen Studie zusammen mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, der Goethe-Universität in Frankfurt/Main, der Humboldt-Universität in Berlin und dem Verein White Unicorn gezeigt, dass Autistinnen und Autisten in der Schule zwar oft sagen, was sie stört (Licht, Gerüche, Ordnung), aber es sehr oft nicht ernst genommen wird. Irgendwann wird es ihnen dann zu viel."

Autismus-Kindergarten-Studie

Mai 2025

Wir haben in den letzten Jahren zusammen mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, der Goethe-Uni Frankfurt und der Humbodt-Universität in Berlin siebenundzwanzig neurobiologisch bedingte Hindernisse erkannt, denen Autistinnen und Autisten in der Schule gegenüberstehen. 

Beispielsweise wissen wir, dass viele Autist:innen Reize stark wahrnehmen, also sind Lautstärke und Licht sehr häufig eine Störung. 

Was genau nun im Kita-Alter stört — der Hall in den Räumen oder Gewusel beim Frühstück —, das finden wir heraus.

Wer dabei vor Ort durch Befragung der Kids mitmachen möchte, besonders natürlich Erzieherinnen und Erzieher aus Kindergärten: Meldet euch bitte bei stephanie.fuhrmann@white-unicorn.org

Danke schön!

Vermisster Pawlos (6) lief plötzlich weg: Autismus-Experte äußert Verdacht

Quelle: merkur.de, 28. März 2025

Pawlos stand auf und ging. Seitdem wird der Grundschüler in Weilburg vermisst. Sein Autismus dürfte mit dem Weglaufen in Zusammenhang stehen.

Von Moritz Bletzinger

Weilburg – Seit Dienstag (25. März) fehlt vom sechsjährigen Pawlos jede Spur. In Weilburg läuft eine gigantische Suche nach dem vermissten Kind, an der sich am Mittwoch laut Polizeiangaben über 600 Rettungskräfte und Freiwillige beteiligt haben. Leider bislang erfolglos.

Nach dem Mittagessen hatte Pawlos die Förderschule in Weilburg am Dienstag alleine verlassen, berichtet das Staatliche Schulamt dem Hessischen Rundfunk. Bürgermeister Johannes Hanisch erklärt der Bild: „Gegen 12.45 Uhr ist er von allein aus dem Unterricht aufgesprungen und hat die Schule verlassen.“ Warum Pawlos plötzlich weglief, aktuell völlig unklar.

Der Grundschüler ist Autist, höchstwahrscheinlich besteht ein Zusammenhang zu seinem Weglaufen. Denn: Autistische Kinder laufen häufig weg. Das zeigt unter anderem eine Studie des Cohen Children Medical Center von New York. Mehr als ein Viertel der Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen oder anderen Entwicklungsstörungen hatten in der Studie bereits einmal Reißaus genommen.

Aber warum laufen autistische Kinder wie Pawlos einfach weg? „Viele Autisten und Autistinnen sind in der Schule von Gerüchen, Geräuschen und Licht überfordert. Sie brauchen eine ruhige, möglichst gleiche Umgebung“, erklärt Dr. Mark Benecke bei IPPEN.MEDIA. Autistinnen und Autisten sehen von außen zwar wie alle anderen aus, ihre Nerven sind innen aber anders verdrahtet. „Sie sind für äußerliche Reize viel empfänglicher.“

Der als Kriminalbiologe bekannte Forensiker ist Forschungsleiter im Autismusverband White Unicorn und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Bedürfnissen von Autistinnen und Autisten. In Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, der Goethe-Universität Frankfurt und der Humboldt-Universität in Berlin unterstützt er unter anderem das Projekt „schAUT - Schule und Autismus“.

Was kann eine Autistin oder ein Autist tun, wenn ihre Bedürfnisse zum Beispiel in der Schule nicht erfüllt werden? „Die einzige Möglichkeit für sie ist, innerlich oder äußerlich durchzubrennen“, sagt Benecke. „Ihr Leben in der Schule ist oft so, wie wenn ein Mensch Durst hat, aber alle sagen: ‚Stell dich nicht so an, ich habe keinen Durst.‘ Da würdest du auch entscheiden, diese Umgebung zu verlassen.“

Ob Pawlos das im Moment vor seinem Verschwinden so verspürt hat, wissen wir nicht. Bekannt ist, dass in der Weilburger Förderschule sofort auf sein Weglaufen reagiert wurde. Das Schulamt erklärt dem hr: „Sein Fehlen wurde von den aufsichtsführenden Lehrkräften binnen einer Minute bemerkt.“ Unmittelbar sei eine Suchaktion auf dem Gelände und im Gebäude gestartet worden und eine Viertelstunde später folgte die Information an Polizei sowie Eltern. (moe)

Autismus hinter den Kulissen

Hinter den Kulissen der Abschlusstagung des Projektes "SchAUT" (Schule & Autismus) 🦄 in der Humboldt-Universität Berlin (mit Goethe-Uni Frankfurt/Main & White Unicorn e.V.)

15. + 16. Mai 2024 😊

Barrieren in der Schule abbauen

Quelle: autismus verstehen 02 | 24, Seiten 12–15

Wissenschaftliche Erkenntnisse zu barrierefreien Schulen

Klick hier für das .pdf

Interview: Marie-Louise Abele | Foto: Julian Pawlowski

Schule & Autismus: schAUT

Nicht über, sondern mit Menschen im Autismus-Spektrum, ganz im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention, war einer der Grundsätze für das Projekt schAUT. Zugrunde gelegt wurde ein neurodiverses Verständnis von Autismus als genetisch bedingte neurologische Variante.

Das Verständnis von Behinderung orientiert sich somit nicht an Diagnosen, sondern an den Barrieren in den verschiedenen Lebensbereichen. Von Juni 2021 bis Mai 2024 lief das partizipative Verbund-Projekt, das von Anfang an von Autistinnen und Autisten mitgestaltet wurde. Beteiligt waren die Partner White Unicorn - Verein zur Entwicklung eines autistenfreundlichen Umfeldes e. V., die Humboldt-Universität Berlin sowie die Goethe-Universität Frankfurt. Gefördert wurde dieses Projekt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Zunächst wurde ein illustrierter Fragebogen zu den weitgehend unsichtbaren Barrieren von autistischen Schülerinnen und Schüler entwickelt. Mit diesem werden die subjektiven Einschätzungen erfragt. Das Erkennen dieser Barrieren ist Voraussetzung für deren Abbau und somit für die Inklusion und Teilhabe.

Bald stellte sich heraus, dass diese Barrieren auch für andere Kinder bestehen können. Der schAUT-Barrierefragebogen ist somit für alle Kinder und Jugendlichen ein Hilfsmittel zur barrierefreien Gestaltung des schulischen Umfelds im Klassenverband. Die Auswertung der subjektiven Einschätzungen aller ergibt Hinweise für die Gestaltung von Lernumgebungen, welche auch die Bedürfnisse der ganzen Klasse im Blick haben.

Im weiteren Verlauf des Projekts wurde eine Handreichung mit praxisbezogenen Empfehlungen zur Reduktion bestimmter Barrieren entwickelt. Diese enthält sowohl Vorschläge von Schülerinnen und Schülern als auch von Lehrkräften. Darüber hinaus wurde ein Raster zur Erhebung des Stands der inklusiven Entwicklung von Schulen erstellt. Auch digitale Fortbildungsmodule zur Handhabung dieser Materialien wurden entwickelt.

Welche Ergebnisse des Projekts schAUT können in unserem jetzigen Schulsystem übernommen werden?

Es hat mich selbst erstaunt, aber es lassen sich alle Ergebnisse übernehmen. Jede Schule kann sich heraussuchen, welche Vorschläge sie zum Abbau von Barrieren jeweils für Einzelne sowie für die ganze Klasse umsetzen möchte. Zum Beispiel ist es sinnvoll, Unterrichtsräume nur zu wechseln, wenn es zwingend notwendig ist. Bei störenden Gerüchen ist es möglich, mehr zu lüften oder die Entlüftung zu verbessern. Unangenehme Geräusche wie eine laute Schulklingel kann jede Schule einfach dämpfen, die Fenster lassen sich schließen und Kopfhörer zum Lärmschutz sind auch keine Schwierigkeit. Auch Rückzugsmöglichkeiten bis hin zum Unterricht zuhause sind hilfreich. Wer laute Gemeinschaftsräume nicht erträgt, kann in einen Ruheraum gehen.

Auch Licht lenkt oft ab, etwa durch Neonröhren, Geflackere oder blendende Lichter. Das lässt sich superleicht lösen, einfach die Kids fragen. Manche bevorzugen LED-Lampen oder dimmbare Lichter und natürlich herunter gelassene Rollläden bei Sonne. Unsere Handreichung zur barrieresensiblen Gestaltung inklusiver Schulen enthält viele Vorschläge, die direkt von den Kids kommen. Das meiste davon finden übrigens auch die nicht-autistischen Schülerinnen und Schüler angenehm.

Ein einfühlsamer Umgang untereinander hilft immer, damit sich alle gegenseitig verstehen. Autistinnen und Autisten brauchen immer einfach mehr Pausen. Das ist keine Einbildung, sondern lässt sich im Gehirn messen.

Wichtig ist auch, sogenanntes „Stimming“ zu erlauben. Das ist eine für die anderen Kinder möglichst nicht störende, beruhigende Beschäftigung wie Hände reiben, zeichnen oder ähnliches. Das lenkt Autistinnen und Autisten nicht ab, sondern erlaubt es ihnen, aufzupassen.

Gruppenarbeit ist auch nicht für alle geeignet. Autistinnen und Autisten sind vom Gruppengewirr oft überfordert. Wozu etwas erzwingen, was nur Chaos verursacht? Grundsätzlich gilt: Auf die Kids hören, wenn sie sagen, dass sie etwas stört. Nicht sagen: „Also mich und Leon und Mila stört das aber nicht.“ Und lieber einmal mehr nachfragen, wenn klar ist, dass etwas nicht stimmt.

Gibt es bereits Umsetzungsbeispiele von Schulen seit der Abschlusstagung?

Ja, beispielsweise hat das Humboldt-Gymnasium in Tegel schon einiges umgesetzt und ich habe dort auch einen Vortrag für Eltern, Lehrerkräfte und Schülerinnen und Schüler gehalten. Ist wie alles dazu auch auf Youtube zu finden.

Ich habe dort und in Vereinen ohne Fremdworte erklärt, dass Menschen im Autismus-Spektrum sich ebenso wenig „zusammenreißen“ können, wie ein Mensch der starken Durst hat oder todmüde ist. Autistische Schülerinnen und Schüler haben in ihrer Art vom Leben auf ihrer Schule berichtet. Das war erstklassig und es sind uns allen, auch mir, viele Lampen aufgegangen (für autistische Menschen: Das ist eine Redewendung).

Wie kann eine schrittweise Umstellung auf ein inklusives Schulsystem erfolgen und was ist für Sie das wichtigste Kriterium für eine gelingende Inklusion?

Einfach sofort anfangen anstatt zu diskutieren. Seit unserer Untersuchung wissen wir – aus tausenden von Informationen berechnet – ganz genau, was die Kids stört. Jede Schule kann wie gesagt anfangen, womit sie möchte: Entweder einfach das umsetzen, was am schnellsten geht oder das, wofür Fördermittel da sind oder das, worauf sich alle in der Schule gut einigen können. Handeln statt reden.

Was würden Sie verzweifelten Lehrerkräften als ersten, schnellen Schritt raten, die unter extrem angespannten Rahmenbedingungen arbeiten?

Manche Schulen unterstützen Begleitpersonen im Unterricht – und umgekehrt. Andere führen kleine Änderungen an der Beleuchtung und den Raumplänen durch. Viele erlauben es Autistinnen und Autisten, in der Pause allein in einem Raum zu bleiben. Es gibt superviele Möglichkeiten, einfach anzufangen. Wie gesagt: Mit den Kids reden und ihre Aussagen ernst nehmen, auch wenn ich persönlich anders ticke. Jede kleine Verbesserung ist besser als keine Verbesserung.

Das Allerwichtigste für verzweifelte Schulen ist es, Mobbing deutlich anzusprechen. Ein offenes und menschenfreundliches Umfeld tut allen Kindern gut. Wenn Schulen dort aufgeben oder ins „die sollen sich nicht alle so anstellen“ verfallen, ist der Rest sinnleer.

Was würden Sie sagen wäre der größte Wunsch aller an den Schulen?

Sich gegenseitig ernst nehmen. Viele Kinder geben auf, ihre Wünsche oder Bedürfnisse mitzuteilen, wenn niemand es ernst nimmt. Autistische Menschen haben oft weder einen zu ihren Wünschen passenden Gesichtsausdruck, noch sind sie zum richtigen Zeitpunkt laut genug, noch können sie sozial angepasst ihre Botschaft mitteilen.

Daher: Einfach wortwörtlich auf die Worte hören, die sie sagen oder aufschreiben oder – mit unseren gedruckten Hilfestellungen – als Bilder zeigen.

Müssten Menschen im Autismus-Spektrum weniger maskieren, wenn sie unter sich wären und nicht inklusiv an Regelschulen?

Das hängt von den Lehrerkräften ab. Wenn sie von diesen aufgefordert werden, sich zusammenzureißen oder wie alle andere zu benehmen, freundlicher zu lächeln, im Internat nachts Schnarchende im gleichen Raum zu ertragen oder ähnliches, dann würde auch eine Schule nur für autistische Menschen nichts bringen. Das wäre dann purer Fake.

An meiner Labortüre hing viele Jahre ein Schild auf dem stand „School for Gifted Youngsters“, wie bei den Marvel-Comic-X-Men. Das sollte bedeuten, dass zwar fast alle meiner Studierenden sonderlich sind, aber alle anders sonderlich. Eine Schule für Menschen im Autismus-Spektrum müsste also so wie Professor Xaviers Schule gestaltet sein: Jede und jeder ist anders mit anderen Stärken und Schwächen.

Wie haben Sie Ihren Schulalltag als Kind erlebt?

Ich fand meine städtische, ganz „normale“ Schule in der Kölner Innenstadt, das Alexander-von-Humboldt-Gymnasium, super und habe nicht eine Minute blau gemacht.

Die Lehrkräfte waren erkennbar unterschiedlich, von ultrakonservativ bis superstreng, abgeschlafft und kränklich, rein wissenschaftlich oder sozial eingestellt. Es war die beste Lernumgebung im Fach „Menschen sind verschieden, aber alle können was (anderes), auch die eigentümlichen Erwachsenen.“

Gut war, dass wir in der Oberstufe viele Fächer abwählen konnten, das war in Nordrhein-Westfalen damals normal. Manche konnten als Abi-Hauptfach Sport oder Kunst wählen, andere lieber Sprachen, andere Naturwissenschaften. Das war anders als heute und der Lehrplan war viel freier

Autismus to go: Fortbildungspodcast des Berufsbildungswerks Hamburg

New Podcast Episode: Im Gespräch mit Dr. Mark Benecke und Ines Fischer von White Unicorn e.V.

Der Verein White Unicorn e.V. ist ein peergestützter Verein, der sich für ein  autismusfreundliches Umfeld einsetzt. Mithilfe von Forschungs- und Aufklärungsprojekte entwickelt der Verein Materialien, um bessere, inklusive Bildungschancen für Kinder im Spektrum zu ermöglichen.

Materialien sowie Handreichungen findet ihr auf der Webseite des Vereins unter 

 https://www.white-unicorn.org/startseite

+++

Anmerkung von Mark: Wir bedanken uns bei allen, die mit uns seit Jahren zusammen arbeiten, darunter die Goethe-Universität Frankfurt/Main, die Humboldt-Universität Berlin (HU), Aktion Mensch, das Bundesministerium für Bildung & Forschung (BMBF) und der Verbund 'Schule & Autismus' (schAUT) 🤝

SR kultur "Bist du behindert?" – Leben als Autist:in (mit Mark & Ines)

Quelle: tabularasa – weg mit Tabus · SR2 KulturRadio · 12. November 2024 · ARD Mediathek & SR2 Radio · https://www.ardaudiothek.de/episode/tabularasa-weg-mit-tabus/bist-du-behindert-leben-als-autist-in/sr-kultur/13881917/ · titel thesen temperamente (ttt)

Auszüge aus dem Podcast

[0:00:03]: Mark Benecke:

"Sowohl dieser Begriff der Folter, der jetzt auch garantiert empörte Zuschriften an den Sender hier hervorrufen wird als auch der Begriff dieser Umwandlungs-Behandlungen, der ist, der ist leider messbar, zutreffend, sachlich."

Host Laura:

"Das Besondere an Autismus und ein Grund, warum Diagnosen oft spät erfolgen, ist, dass es ein Spektrum ist – die Symptome treten in ganz unterschiedlicher Ausprägung und Stärke auf. Daher spricht man in der Psychologie heute von einer Autismusspektrumstörung. Warum Autismus schwer zu diagnostizieren ist und welche Überlappungen es zu anderen Formen der Neurodivergenz gibt, hat mir Mark Benecke genauer erklärt."

[0:15:41]: Mark Benecke:

Es gibt viele Überschneidungen. Es gibt nicht 'den Autisten' oder 'die Autistin'. Zum Beispiel kann jederzeit eine posttraumatische Belastungsstörung dazukommen, weil Autist*innen in ihrer Kindheit häufig von Umweltreizen genervt werden.

[0:16:29]: "Ich habe bewusst nach den Problemen von Autistinnen gefragt und nicht danach, was Autistinnen sind. Das habe ich auch die Partnerin von Mark Benecke gefragt, und sie hat ähnliche Schwierigkeiten wie ich, das zu erklären."

[0:16:44]: Ines Benecke:

"Ich finde es schwierig zu erklären, weil man Autismus immer im Vergleich zu Neurotypischen erklären muss. Und dafür muss ich mich als Autistin in eine neurotypische Sicht hineinversetzen, um den Unterschied zu erkennen. Für mich ist mein Verhalten ja normal – neurotypische Menschen finden mich komisch, nicht umgekehrt." 

[0:17:40]: Mark Benecke:

"Grundsätzlich ist Autismus eine andere Verdrahtung im Gehirn, als ob die „Drähte“ die Nerven wären. Zum Beispiel nehmen Autist:innen Reize oft viel stärker wahr. Es ist jedoch bisher nicht genau geklärt, ob die Reize wirklich intensiver ankommen oder ob bestimmte Filter nicht so funktionieren, dass die Sortierung, also das Gewicht, das einem Reiz gegeben wird, eingeschränkt ist. Es ist also nicht sicher, ob ein Geräusch tatsächlich lauter wahrgenommen wird oder ob einfach die Möglichkeit fehlt, sich davon abzulenken. Bei mir wäre das zum Beispiel das Ticken einer Uhr."

[0:42:56]: Mark Benecke:

"Es gibt allerdings auch Therapien, die ganz andere Ansätze verfolgen. Deswegen muss man da stark unterscheiden. Ines meint hier die gängigsten Angebote – dabei handelt es sich um spezielle Verhaltenssysteme, die auf Englisch bezeichnet werden, mit Lernmethoden und Verhaltenstherapien, die aber nichts mit herkömmlichen psychologischen Verhaltenstherapien zu tun haben, sondern speziell auf Autismus bezogen sind. Für Autisten und Autistinnen werden diese Methoden jedoch oft als eine Art Folter empfunden, bei der sie sich stundenlang an Reize gewöhnen sollen, an die sie sich nicht gewöhnen können."

[0:44:27]: Mark Benecke

"Aber das ist bei Autistinnen messbar. Es sind keine „Flausen“ , sondern neurologisch belegte Reaktionen, die man im Gehirnscans sehen kann: Bei bestimmten Reizen leuchten die Bereiche für Angst, Ekel oder Vermeidung auf."

[0:44:45]: Host Laura:

"Ines und Mark haben als Beispiel für solche Abneigungen Knoblauchgurken genommen. Wenn ein Autist oder eine Autistin Knoblauchgurken eklig findet, ist das absolut nachvollziehbar."

[0:44:56]: Mark Benecke:

"Das ist eigentlich gar nicht abwegig, aber ein autistisches Kind soll sich dann doch bitte an diese „blöden“ Knoblauchgurken gewöhnen."

[0:45:06]: Mark Benecke:

"Wer würde denn beim Abendessen sagen: „Damit du dich daran gewöhnst, gibt es heute nur Knoblauchgurken?“ Das würde doch niemand machen."

Mark Benecke:

"Das Verrückte an dieser Art von Therapie ist, dass nicht das echte soziale Verhalten gefördert wird, sondern nur eine angepasste, oft „verlogene“ soziale Anpassung."

[0:48:59]:

"Autisten erleben oft Traumatisierungen wie Mobbing und Ausgrenzung. Vielleicht wäre es besser, eine Therapie zu entwickeln, die darauf Rücksicht nimmt, statt auf Anpassung zu setzen." 

[0:49:21]:

"Gefühlt müsste man eher die Gesellschaft therapieren, damit sie lernt, mit Autist:innen umzugehen."

"Auch gegenseitiges Verständnis wäre hilfreich. Es geht darum, das Selbstwertgefühl von Autistinnen zu stärken und ihre Stärken zu erkennen."

[0:51:15]:

"Autismus ist offiziell eine Behinderung. Innerhalb der Betroffenen gibt es jedoch auch Stimmen, die Autismus als eine Art Superkraft sehen."

[0:51:45]: Mark Benecke: 

"Es ist auch eine Superkraft. Das meine ich wirklich. Auch wenn ich das jetzt ein bisschen lustig sage."

[0:52:07]:

"Man sagt, „kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten“ , und das zeigt auch die Vielfalt der Community."

[0:52:21]: Beccs

"Ich sehe Autismus nicht als Superkraft, sondern eher als Behinderung, wenn auch in einer idealen Gesellschaft."

[0:52:33]: Host Laura:

"Ich sehe sowohl Vorteile als auch Nachteile durch den Autismus. Letztlich wiegt es sich für mich aus."

[0:53:11]: Co-Host Katharina:

"Das Wort „Behinderung“ bedeutet ja, dass man an etwas gehindert wird, und das trifft in einigen Bereichen zu."

 [0:53:56]:

"In manchen Bereichen können Autist*innen jedoch glänzen."

[0:54:02]: Mark Benecke:

"Viele erfolgreiche Code-Knacker sind natürlich Autist:innen."

[0:54:14]: Host Laura:

"Wenn man keine wissenschaftliche Karriere anstrebt, kann eine Diagnose aber hilfreich sein, z. B. für Nachteilsausgleiche oder einen besonderen Kündigungsschutz."

[0:54:41]:

"Es kann auch ein Vorteil sein, Autist:in zu sein. Es gibt Fähigkeiten, die andere nicht haben. Es hängt von deinem Lebensumfeld ab, ob Autismus ein Vorteil oder Nachteil ist."