Barrieren in der Schule abbauen

Quelle: autismus verstehen 02 | 24, Seiten 12–15

Wissenschaftliche Erkenntnisse zu barrierefreien Schulen

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Interview: Marie-Louise Abele | Foto: Julian Pawlowski

Schule & Autismus: schAUT

Nicht über, sondern mit Menschen im Autismus-Spektrum, ganz im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention, war einer der Grundsätze für das Projekt schAUT. Zugrunde gelegt wurde ein neurodiverses Verständnis von Autismus als genetisch bedingte neurologische Variante.

Das Verständnis von Behinderung orientiert sich somit nicht an Diagnosen, sondern an den Barrieren in den verschiedenen Lebensbereichen. Von Juni 2021 bis Mai 2024 lief das partizipative Verbund-Projekt, das von Anfang an von Autistinnen und Autisten mitgestaltet wurde. Beteiligt waren die Partner White Unicorn - Verein zur Entwicklung eines autistenfreundlichen Umfeldes e. V., die Humboldt-Universität Berlin sowie die Goethe-Universität Frankfurt. Gefördert wurde dieses Projekt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Zunächst wurde ein illustrierter Fragebogen zu den weitgehend unsichtbaren Barrieren von autistischen Schülerinnen und Schüler entwickelt. Mit diesem werden die subjektiven Einschätzungen erfragt. Das Erkennen dieser Barrieren ist Voraussetzung für deren Abbau und somit für die Inklusion und Teilhabe.

Bald stellte sich heraus, dass diese Barrieren auch für andere Kinder bestehen können. Der schAUT-Barrierefragebogen ist somit für alle Kinder und Jugendlichen ein Hilfsmittel zur barrierefreien Gestaltung des schulischen Umfelds im Klassenverband. Die Auswertung der subjektiven Einschätzungen aller ergibt Hinweise für die Gestaltung von Lernumgebungen, welche auch die Bedürfnisse der ganzen Klasse im Blick haben.

Im weiteren Verlauf des Projekts wurde eine Handreichung mit praxisbezogenen Empfehlungen zur Reduktion bestimmter Barrieren entwickelt. Diese enthält sowohl Vorschläge von Schülerinnen und Schülern als auch von Lehrkräften. Darüber hinaus wurde ein Raster zur Erhebung des Stands der inklusiven Entwicklung von Schulen erstellt. Auch digitale Fortbildungsmodule zur Handhabung dieser Materialien wurden entwickelt.

Welche Ergebnisse des Projekts schAUT können in unserem jetzigen Schulsystem übernommen werden?

Es hat mich selbst erstaunt, aber es lassen sich alle Ergebnisse übernehmen. Jede Schule kann sich heraussuchen, welche Vorschläge sie zum Abbau von Barrieren jeweils für Einzelne sowie für die ganze Klasse umsetzen möchte. Zum Beispiel ist es sinnvoll, Unterrichtsräume nur zu wechseln, wenn es zwingend notwendig ist. Bei störenden Gerüchen ist es möglich, mehr zu lüften oder die Entlüftung zu verbessern. Unangenehme Geräusche wie eine laute Schulklingel kann jede Schule einfach dämpfen, die Fenster lassen sich schließen und Kopfhörer zum Lärmschutz sind auch keine Schwierigkeit. Auch Rückzugsmöglichkeiten bis hin zum Unterricht zuhause sind hilfreich. Wer laute Gemeinschaftsräume nicht erträgt, kann in einen Ruheraum gehen.

Auch Licht lenkt oft ab, etwa durch Neonröhren, Geflackere oder blendende Lichter. Das lässt sich superleicht lösen, einfach die Kids fragen. Manche bevorzugen LED-Lampen oder dimmbare Lichter und natürlich herunter gelassene Rollläden bei Sonne. Unsere Handreichung zur barrieresensiblen Gestaltung inklusiver Schulen enthält viele Vorschläge, die direkt von den Kids kommen. Das meiste davon finden übrigens auch die nicht-autistischen Schülerinnen und Schüler angenehm.

Ein einfühlsamer Umgang untereinander hilft immer, damit sich alle gegenseitig verstehen. Autistinnen und Autisten brauchen immer einfach mehr Pausen. Das ist keine Einbildung, sondern lässt sich im Gehirn messen.

Wichtig ist auch, sogenanntes „Stimming“ zu erlauben. Das ist eine für die anderen Kinder möglichst nicht störende, beruhigende Beschäftigung wie Hände reiben, zeichnen oder ähnliches. Das lenkt Autistinnen und Autisten nicht ab, sondern erlaubt es ihnen, aufzupassen.

Gruppenarbeit ist auch nicht für alle geeignet. Autistinnen und Autisten sind vom Gruppengewirr oft überfordert. Wozu etwas erzwingen, was nur Chaos verursacht? Grundsätzlich gilt: Auf die Kids hören, wenn sie sagen, dass sie etwas stört. Nicht sagen: „Also mich und Leon und Mila stört das aber nicht.“ Und lieber einmal mehr nachfragen, wenn klar ist, dass etwas nicht stimmt.

Gibt es bereits Umsetzungsbeispiele von Schulen seit der Abschlusstagung?

Ja, beispielsweise hat das Humboldt-Gymnasium in Tegel schon einiges umgesetzt und ich habe dort auch einen Vortrag für Eltern, Lehrerkräfte und Schülerinnen und Schüler gehalten. Ist wie alles dazu auch auf Youtube zu finden.

Ich habe dort und in Vereinen ohne Fremdworte erklärt, dass Menschen im Autismus-Spektrum sich ebenso wenig „zusammenreißen“ können, wie ein Mensch der starken Durst hat oder todmüde ist. Autistische Schülerinnen und Schüler haben in ihrer Art vom Leben auf ihrer Schule berichtet. Das war erstklassig und es sind uns allen, auch mir, viele Lampen aufgegangen (für autistische Menschen: Das ist eine Redewendung).

Wie kann eine schrittweise Umstellung auf ein inklusives Schulsystem erfolgen und was ist für Sie das wichtigste Kriterium für eine gelingende Inklusion?

Einfach sofort anfangen anstatt zu diskutieren. Seit unserer Untersuchung wissen wir – aus tausenden von Informationen berechnet – ganz genau, was die Kids stört. Jede Schule kann wie gesagt anfangen, womit sie möchte: Entweder einfach das umsetzen, was am schnellsten geht oder das, wofür Fördermittel da sind oder das, worauf sich alle in der Schule gut einigen können. Handeln statt reden.

Was würden Sie verzweifelten Lehrerkräften als ersten, schnellen Schritt raten, die unter extrem angespannten Rahmenbedingungen arbeiten?

Manche Schulen unterstützen Begleitpersonen im Unterricht – und umgekehrt. Andere führen kleine Änderungen an der Beleuchtung und den Raumplänen durch. Viele erlauben es Autistinnen und Autisten, in der Pause allein in einem Raum zu bleiben. Es gibt superviele Möglichkeiten, einfach anzufangen. Wie gesagt: Mit den Kids reden und ihre Aussagen ernst nehmen, auch wenn ich persönlich anders ticke. Jede kleine Verbesserung ist besser als keine Verbesserung.

Das Allerwichtigste für verzweifelte Schulen ist es, Mobbing deutlich anzusprechen. Ein offenes und menschenfreundliches Umfeld tut allen Kindern gut. Wenn Schulen dort aufgeben oder ins „die sollen sich nicht alle so anstellen“ verfallen, ist der Rest sinnleer.

Was würden Sie sagen wäre der größte Wunsch aller an den Schulen?

Sich gegenseitig ernst nehmen. Viele Kinder geben auf, ihre Wünsche oder Bedürfnisse mitzuteilen, wenn niemand es ernst nimmt. Autistische Menschen haben oft weder einen zu ihren Wünschen passenden Gesichtsausdruck, noch sind sie zum richtigen Zeitpunkt laut genug, noch können sie sozial angepasst ihre Botschaft mitteilen.

Daher: Einfach wortwörtlich auf die Worte hören, die sie sagen oder aufschreiben oder – mit unseren gedruckten Hilfestellungen – als Bilder zeigen.

Müssten Menschen im Autismus-Spektrum weniger maskieren, wenn sie unter sich wären und nicht inklusiv an Regelschulen?

Das hängt von den Lehrerkräften ab. Wenn sie von diesen aufgefordert werden, sich zusammenzureißen oder wie alle andere zu benehmen, freundlicher zu lächeln, im Internat nachts Schnarchende im gleichen Raum zu ertragen oder ähnliches, dann würde auch eine Schule nur für autistische Menschen nichts bringen. Das wäre dann purer Fake.

An meiner Labortüre hing viele Jahre ein Schild auf dem stand „School for Gifted Youngsters“, wie bei den Marvel-Comic-X-Men. Das sollte bedeuten, dass zwar fast alle meiner Studierenden sonderlich sind, aber alle anders sonderlich. Eine Schule für Menschen im Autismus-Spektrum müsste also so wie Professor Xaviers Schule gestaltet sein: Jede und jeder ist anders mit anderen Stärken und Schwächen.

Wie haben Sie Ihren Schulalltag als Kind erlebt?

Ich fand meine städtische, ganz „normale“ Schule in der Kölner Innenstadt, das Alexander-von-Humboldt-Gymnasium, super und habe nicht eine Minute blau gemacht.

Die Lehrkräfte waren erkennbar unterschiedlich, von ultrakonservativ bis superstreng, abgeschlafft und kränklich, rein wissenschaftlich oder sozial eingestellt. Es war die beste Lernumgebung im Fach „Menschen sind verschieden, aber alle können was (anderes), auch die eigentümlichen Erwachsenen.“

Gut war, dass wir in der Oberstufe viele Fächer abwählen konnten, das war in Nordrhein-Westfalen damals normal. Manche konnten als Abi-Hauptfach Sport oder Kunst wählen, andere lieber Sprachen, andere Naturwissenschaften. Das war anders als heute und der Lehrplan war viel freier