"Machen Sie einfach ein Foto von der Leiche"

Quelle: Mein Bezirk, Steiermark, 11. Juni 2024

Von Nina Schemmerl

Der wohl bekannteste Kriminalbiologie gastierte in Graz, um über "Insekten auf Leichen" zu sprechen. Vorab haben wir Mark Benecke zum Interview gebeten: ein Gespräch über die Wissenschaft, den Totenkult, messbare Wahrheiten und Lampenschirme, die aus Menschenhaut gemacht wurden. 

STEIERMARK/GRAZ. Auf nur knapp 50 Quadratmetern erzählt das Hans Gross Kriminalmusuem an der Universität Graz von der (heimischen) Geschichte der Kriminalität. Die Sammlung der corpora delicti wurde 1895 im "Criminal-Museum am Landesgericht für Strafsachen", wie es damals hießt, angelegt, um der Verbrechensaufklärung ein Handbuch zu geben. Inmitten der Stadt des Begründers der wissenschaftlichen Kriminologie und Kriminalistik gab Mark Benecke einen Einblick in seine Arbeit: Der Kriminalbiologie ist Spezialist für forensische Entomologie. Das bedeutet nichts anderes, als dass sein Team und er dabei helfen, Rechtsfälle und Tötungsdelikte anhand von Insekten, deren Lebenszyklen und Verhaltensweisen aufzuklären. 

Foto: Mark Benecke

Vereinfacht gesagt. Denn der Kölner ist in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen gefragt wie kein anderer: Für das FBI untersucht er in Tennessee vor sich hin verwesende Leichen auf sogenannten Body Farms, nahm Überreste – Schädel und Kiefer – von Adolf Hitler genau unter die Lupe, befragte "Die Bestie" Luis Garavito – einem kolumbianischen Serienmörder, dem knapp 250 Kinder zum Opfer fielen –, oder tauchte ab in das Kapuzinerkloster in Palermo, um den Mumien auf die Spur zu kommen. Und das sind nur Fälle, die man ohnehin schon kennt, wenn man sich mit seiner Person auseinandergesetzt hat. Benecke ist Öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für kriminaltechnische Sicherung, Untersuchung und Auswertung von biologischen Spuren.

Bei seinen Vorträgen schafft er den Spagat, beim Publikum die Faszination am Verbrechen und Ekel gleichermaßen hervorzurufen. Irgendwo zwischen Humor und Totenstille sowie Aufklärung und Subkultur bleiben Besucherinnen und Besucher an seinen Lippen hängen. Warum? Weil er sich in den Dienst der Wahrheit und Wissenschaft stellt. Er wertet nicht, er legt messbare Daten auf den Tisch. Und Benecke lässt alle daran teilhaben: Während beim ersten großflächig gezeigten Bild einer Leiche, die von einem Madenteppich umhüllt ist, noch ein wenig Abscheu und Schaulustigkeit durch die Reihen zieht, ist man am Ende des Vortrags mittendrin – die Wissenschaft siegt. Das geht so weit, dass die Besucherinnen und Besucher, in ihrem Rahmen, erkennen sollen, seit wann ein verwester Körper schon da liegt, wo er liegt. "Jetzt kennen Sie sich schon aus. Und sollten Sie je eine Leiche sehen, was ich nicht hoffe: Machen Sie einfach ein Foto von der Leiche. Das kann bei der Aufklärung helfen."


Im Interview mit Mark Benecke

MeinBezirk: Der Österreicher, die Österreicherin haben historisch gesehen, Stichwort "schöne Leiche", eine besondere Beziehung zum Tod. Heute scheint das wie verschwunden – viel Schmerz und Furcht ist mit dem Tod verbunden. Auch, weil er nicht verständlich ist. Denkst du, dass man den Tod wieder "zelebrieren" müsste, um ihn zu verarbeiten?

Mark Benecke: Angst vor dem Tod hatten die Leute schon immer. Auch berechtigt, wegen der ganzen Seuchen. Früher gab es ja auch noch Durchfallerkrankungen, Masern, Tuberkulose, Kinderlähmung. Lauter Sachen, über die wir heute nicht mehr sprechen in reichen Ländern. Die Leute sind massenhaft gestorben. Wenn du genug Geld hast, dann hat man prächtige Gräber, das ist überall auf der Welt so. Wenn du das als Statussymbol machst, kann man auch nach dem Tod sehen, dass du der reichste, tollste warst. Oder deine Angehörigen, dir kann es nämlich egal sein als Tote, als Toter. Da hat sich nicht viel geändert. Heute ist es halt so, dass es sich – du hast ja gesagt "schöne Leiche" – nicht mehr auf die Leiche ausdrückt, sondern auf eine andere Art. Es gibt mittlerweile zudem ein anderes Ansehen. Heute bist du einfach vergessen, aber du hast durch die heutige Digitalisierung super viele Leute kurz geschockt, wenn du zum Beispiel als DJ oder Youtuberin oder Influencerin, Influencer jung stirbst. Das gab es damals nur bei absoluten "Megastars". Man kann das nicht vergleichen mit dem Kultischen von damals.

Man sagt, den perfekten Mord gibt es nicht – obwohl man ja nicht weiß, was noch nicht aufgeklärt wurde –, aber gab es in deiner Arbeit je einen Fall, bei dem du dachtest: Da war man nah dran am perfekten Mord? Da hat mich der Täter sozusagen in meiner Arbeit herausgefordert?

Alle Fälle sind super herausfordernd. Wir behandeln alle Fälle gleich. Und das ist eine Grundbedingung. Man kann das auch an unseren Veröffentlichungen sehen: Im Moment bearbeiten wir einen Fall, da ist ein Hund vernachlässigt worden und gestorben. Das örtliche tierärztliche Amt hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, die Besitzerin hat ein Jahr lang ein Haltungsverbot für Hunde bekommen, obwohl man sagen müsste, sie darf nie wieder überhaupt ein Tier halten. Aber das interessiert ja keinen. Das ist wie mit Schweinefleisch-, Rinderfleisch essen, das kratzt die Leute nicht. Alle sagen, sie wären Tierfreunde und in Wirklichkeit ist es den meisten egal, was mit den Tieren passiert, die sie essen. Für viele sind tote Tiere ohne Bedeutung, aber wir machen das genauso wie jeden anderen Kriminalfall, der vielleicht für die Presse spannend ist. Im Labor machen wir keine Unterschiede.
Die Fälle sind für uns auch persönlich gleich. Es versucht auch niemand, uns zu erklären, dass ein Fall wichtiger wäre als ein anderer. Damit meine ich: Wenn du die Angehörige eines toten Kindes bist, wirst du mit derselben Energie auf uns einreden wie, wenn eine berühmte Persönlichkeit stirbt — es ist für die Beteiligten immer wichtig.

Du gehst wahrheitsbezogen, sachlich, rational an deine Arbeit heran. Empfindest du eine moralische Verantwortung, die mit der Aufklärung von Verbrechen verbunden ist, besonders, wenn deine Erkenntnisse das Leben der Beteiligten stark beeinflussen kann?

Ich bin nicht für die Gefühle verantwortlich, sondern für die Wahrheit. Wenn es etwas ist, das therapeutisch behandelt werden muss, dann müssen Leute ran, die sich mit Therapien auskennen. Oder wenn es politische Folgen hat, dann muss es politisch gelöst werden. Das hat auch etwas Kulturelles: Bilder von Tatorten können wissenschaftlich herausgegeben werden, aber teilweise sind sie so episch und eindrucksvoll, dass sie, wie soll ich sagen, Wellen und Fahrwasser entwickeln. Dem kann man nicht ausweichen. Und dann muss man sich überlegen, wie man damit arbeitet. Der Kollege aus Österreich zum Beispiel, Prokop (Otto Prokop, Anm. d. Red.), der hat sehr bildlich gearbeitet und ist damit gegen seinen Willen im damaligen Westdeutschland unter Künstlerinnen, Künstlern bekannt geworden, nicht wissenschaftlich. Das Buch ist erst nach dem Mauerfall in Deutschland auch bei Jüngeren wissenschaftlich wahrgenommen worden, obwohl es ein rein wissenschaftliches Werk ist. Prokop hat genau das gemacht, wovor ich gewarnt wurde: Er suchte Bilder aus, die so eindrucksvoll waren, dass sie ihr Eigenleben entwickelt haben. Wir achten seither darauf, dass das nicht passiert, denn wenn die Angehörigen 20 Jahre später auf irgendeinem Umweg wieder damit in Berührung kommen, dann lässt man es besser sein.

Wir können den Leuten manchmal schon sagen: Das geht uns jetzt nichts an, aber wir reden mal kurz privat. Wir haben den Eindruck, dass sich eine posttraumatische Störung aufbaut. Vielleicht wollen Sie doch mit jemandem darüber reden. Ein einziges Mal in 30 Jahren haben wir mit einem Supervisor zusammengearbeitet. Dem habe ich erzählt, dass wir eine schwierige Beziehung in einem Fall haben – ein Ehepaar, das sich unausgesprochen gegenseitig Vorwürfe über den Tod des Kindes gemacht hat. Das passiert oft. Sie haben in ihrer gebildeten Notfallgemeinschaft nur noch über den Tod des Kindes gesprochen und recherchiert. Das war nicht gesund. Mit dem Experten haben wir gesprochen, wie wir das angehen sollen – und ein Notfallseelsorger hat dann übernommen. Der hat sich mit den Eltern zusammengesetzt. Und danach war das so, als wäre man in einer anderen Welt, in der die Eltern wieder besser miteinander über andere Dinge sprechen konnten. Bei Angehörigen von Sexualdelikten ist das auch häufig so: Sie verstehen sich als Werkzeug dessen, dass Gerechtigkeit herrscht. Aber das ist ja oft nicht so, denn die Tat hat stattgefunden und wird immer ungerecht bleiben.

True Crime boomt. Hat das irgendwelche Auswirkungen auf deinen Berufsstand? Weil die Leute nun noch mehr Interesse an deiner Person haben, wie du arbeitest etc.?

Nein, das gab es auch schon immer. Arthur Conan Doyle hat seinen Sherlock Holmes ja sogar sterben lassen, weil er keine Lust mehr auf Krimis hatte. Es hat sein Leben schlechter gemacht, dass die Leute immer nur seine Sherlock Holmes lesen wollten. Aber er musste die Figur wieder aufstehen lassen, weil die Leserinnen und Leser so viel Theater gemacht haben. Andere seiner schriftstellerischen Tätigkeiten wurden kaum wahrgenommen. Als ich klein war, gab es auch Krimiserien; da saß das halbe Land vor dem Fernseher. Ich denke, dass es den Menschen egal ist, ob es erfundenes Crime oder True Crime ist – das sehe ich, wenn ich Beratungen für Filme und Serien mache –, es interessiert so oder so, auch mit Fehlern. Das beste Beispiel ist, dass alle immer "Pathologe" schreiben: Es gibt keine Pathologen in Kriminalfällen. Das sag' ich seit 1992 jeder Person, es interessiert aber keinen. Die Wirklichkeitsprüfung ist bedeutungslos.
Als es noch wenig Informationsaustausch gab, waren die meisten Verbrechen natürlich noch sehr rätselhaft. Der normale Fingerabdruck, die Linien der Haut, ist in Deutschland zum Beispiel erst 1904 eingeführt worden. Die naturwissenschaftliche Kriminalistik musste erfunden werden von Romanautoren, Doyle und Edgar Allen Poe.

Die Wissenschaft ist ständig in Bewegung. Spürst du das auch in der Insektenkunde?

Ja klar, bei uns in der Kriminalistik geht das genauso voran, wie in allen anderen Forschungsfeldern. Zum Beispiel bei den Bakterien, oder seit wenigen Jahren kann man Gerüche von Leichen mit sehr kleinen Geräten ordentlich untersuchen.

Eine deiner letzten Arbeiten, die medial groß aufgegriffen wurden, sind die Lampenschirme aus Menschenhaut aus dem Konzentrationslager Buchenwald, die von dir untersucht wurden. Bitte verzeih, aber: Ich habe immer geglaubt, dass es Menschenhaut ist. Warum wurde das überhaupt untersucht?

Weil es eben Glauben ist, der Stand der Messung kann anders sein. Jeder hat eine Meinung dazu, aber, who cares, wenn wir es messen können? Das kann ich nicht leiden. Wie wäre es, wenn wir stattdessen erst den Spuren nachgehen? Es gibt vier Lampenschirmen, von einem gibt es ein Buch, das heißt "The Lampshade" (von Mark Jacobson, Anm. d. Red.). Er war überzeugt, dass sein Lampenschirm aus einem Konzentrationslager aus Menschenhaut ist, und wir haben gesagt, ok, aber wir müssen die Messdaten sehen. Da stellte sich heraus, dass es Rinderhaut war. Das war dann vom Tisch. Mit den Lampen beziehungsweise Spuren aus dem KL Buchenwald arbeite ich – diese sind wirklich interessant: Es gibt ein Foto aus einem Arbeitszimmer eines Kommandanten, da sieht man einen Lampenschirm, der haargenau so aussieht wie einer, der noch übrig geblieben ist. Damit war die Herkunft geklärt, das muss geklärt werden, also, ob man die richtige Spur hat. Ich wollte ein für alle Mal klären, worum es sich dabei handelt. Weil: Können wir nicht alles weglassen: alles glauben, alles meinen? Stattdessen einfach messen.

Der Leiter des Archivs im KL und der Direktor der Gedenkstätte waren aus Eigeninteresse sehr daran interessiert. Es wusste lange niemand, dass ich das gemacht habe. Ich selbst hätte es auch nur für das Archiv gemacht. Es war eine Wahnsinnsarbeit, weil zum Beispiel die Kollegen aus der Rechtsmedizin keine Vergleichsgegenstände aus Menschenhaut hatten. Ich habe jedes Labor angesprochen und am Ende hatten wir ein weltweites Netzwerk, das Vergleiche mit Menschenhaut sicher durchführen konnte. Die letzte Untersuchung ist erst vor einer Woche fertig geworden, im Sommer schreibe ich das Gesamtgutachten zusammen.


Biologische Spuren / Biological stains

KZ / KL Buchenwald


“Der Madendoktor”

Kölner Medienpreis | 2004


Mit Maden dem Täter auf der Spur

Das Goldene Blatt | 1999


Börsenblatt

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