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Quelle: PTA heute, April 2021 (Heft 8/2021), S. 28—31

Fragen: Jacqueline Farin, Fotos: Julian Pawlowski, otica.de & Fuenfwerken Design AG

Interview / Titelthema – Ein Verbrechen wirft viele Fragen auf. Angehörige, Polizei und Gericht, sie alle suchen nach Antworten. Um diese zu beantworten, arbeiten verschiedene Expertinnen und Experten zusammen. Einer von ihnen ist Dr. Mark Benecke, Deutschlands einziger öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für biologische Spuren. Vielen ist Dr. Mark Benecke als Sachverständiger aus Sendungen wie Medical Detectives oder Autopsie – Mysteriöse Todesfälle bekannt.

PTAheute: Du wirst oft als Deutschlands bekanntester Kriminalbiologe und Entomologe bezeichnet. Wie würdest du deinen Beruf beschreiben?

Dr. Mark Benecke: Zunächst einmal bin ich Spurenkundler und sammle alle möglichen Dinge ein, entweder am Tatort oder am Fundort von Leichen. Das können beispielsweise Blut, Haare, Sperma, Fasern oder Insekten sein. Finden wir DNA-Spuren, fertigen wir auch genetische Fingerabdrücke an. Es kann aber auch mal Mageninhalt sein, der uns zugeschickt wird, oder ein alter Haarzopf oder eine Bluse. Ich bewerte nichts, ordne ein und sortiere. Ich ekle mich daher nicht – außer vielleicht vor Haaren im Abfluss. Finden wir Fasern von Kleidungsstücken, lassen sich daraus sehr viele Informationen gewinnen: Wo wurde es hergestellt, wie leicht übertragen sich die Fasern, wie alt ist das Kleidungsstück und und und. Finden wir Blutspuren, messen und untersuchen wir sie. Dafür haben wir inzwischen sogar unsere eigene Software. Die bieten wir auch im Internet an – gratis für alle. Damit kann man schnell Auftreifwinkel von Blutstropfen berechnen. Das Programm hat meine Frau nebenbei geschrieben. Es ist auch bei Schülerinnen und Schülern beliebt, weil es sehr einfach gehalten ist. So kann etwa in Schulen – mit Tinte statt Blut – leicht mal ein kriminalbiologisches Experiment gemacht werden. Gerne ertüfteln wir im Labor auch neue Methoden, etwa zum Abformen von Spuren mit Silikon. Das ist supercool. Damit kann man auch die kleinste Ritze, sogar Poren der Haut, abformen. Und das alles ganz ohne Laser-Technik. Oder wir erforschen, warum das alte DDR-Spülmittel FIT die Luminol-Reaktion verstärkt. Außerdem bin ich öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Untersuchung, Sicherung und Auswertung von kriminaltech-nischen Spuren sowie Prüfer für neue Sachverständige. Manchmal betreue ich auch Arbeiten an Polizeifachhochschulen oder Universitäten. Es gibt immer was zu tun.

Du kommst bei deiner Arbeit mit Leichen, Blut oder anderen Körperflüssigkeiten in Kontakt. Musst du dich bezüglich übertragbarer Krankheiten besonders schützen?

Viren sind ja eher zerbrechlich– HIV etwa zerfällt glücklicherweise sofort. Bakterien, wie die, welche beispielsweise Tuberkulose hervorrufen, werden eher durch Tröpfcheninfektionen übertragen, etwa beim Husten, was ja bei Leichen logischerweise nicht mehr relevant ist. Daher ist das Risiko etwa für medizinisches Personal in Kliniken größer. Krätzemilben und andere Tiere interessieren sich eher für lebendige Opfer, sodass sie von Leichen wegwandern.

Ich selbst habe mir alle Haare unterhalb des Halses weglasern lassen. Seither habe ich keine Probleme mehr mit Herbstgrasmilben. Wenn wir in Gebüschen oder Waldrändern nach Spuren suchen, krabbeln die sonst an mir hoch und zerbeißen mich. Und meine kurzen Haare auf dem Kopf sind für Läuse komplett uninteressant. Aber auch wenn wir in Ländern arbeiten, in denen Untersuchungshandschuhe nicht so leicht zu bekommen sind, ist mir kein Fall bekannt, bei dem sich jemand an einer Leiche angesteckt hat. Mit einfachen Hygieneregeln und etwas Vorsicht ist das alles kein Problem.

Wenn du nicht selbst nach Spuren suchst, dann kann es auch sein, dass du Fälle anhand von Fotos untersuchst. Wie ist das möglich, wenn nur wenige Informationen vorliegen?

Wenn ich Fotos ohne Maßstab habe, dann suchen wir nach Gegenständen, die als Größenmaßstab dienen könnten. Trägt die Leiche ein Piercing, frage ich eine Piercerin oder einen Piercer, welchen Durchmesser der Schmuck üblicherweise hat. Das ist dann nicht immer auf den Millimeter genau, aber manchmal genau genug für die jeweilige Fragestellung.

Ein weiteres Beispiel sind Fotos von verschmierten Blutspuren. Mit Blutspuren haben wir viel Erfahrung, und wenn die Qualität der Fotos gut genug ist, kann ich viele Erkenntnisse daraus gewinnen. Etwa, in welcher Reihenfolge durch die jeweils älteren Spuren gewischt wurde. Das kann man auch experimentell überprüfen. Beispielsweise kann ich zum echten Fundort gehen und dort mit echtem Blut prüfen, wie lange es auf den jeweiligen Untergründen dauert, bis die Ränder trocknen.

Rekonstruiert ihr aus den Spuren dann komplette Tathergänge oder ermöglichen die Spuren eher nur einen Einblick in den Fall?

Es ist nicht immer wie im Krimi, wenn die Forscherinnen und Forscher so eine Art Superheldinnen und -helden sind. Aber die Fragen von Gericht, der Kripo, den Angehörigen oder eben allen Auftraggeberin-nen und Auftraggebern sind ja oft Ausschlussfragen: „Können Sie ausschließen, dass die Person sich zu diesem Zeitpunkt noch bewegt und dabei Blut verschmiert hat?“ – „Ja.“ Die vielen einzelnen Puzzleteile fügt dann die Kriminalpolizei oder das Gericht zu einem Gesamtbild zusammen. Wir bewerten nichts, wir liefern nur Informationen für diejenigen, die alles gewichten müssen.

Welchen Stellenwert nehmen DNA-Analysen bei eurer Arbeit ein? Welche Fragen können damit beispielsweise geklärt werden?

Der genetische Fingerab-druck ist ja bei jedem Menschen anders. Biologisches Material, etwa Hautschuppen oder Sperma, wird aufgelöst, sodass die Erbsubstanz übrig bleibt. Spuren wie Blut oder Kot kann man häufig schon mit dem bloßen Auge sehen. Kleinere Spuren sehen wir beispielsweise mittels monochromatischem Licht, das verschiedene Körperflüssigkeiten aufleuchten lassen kann, die sonst unsichtbar wären. 1985, als das DNA-Verfahren entwickelt wurde, hat man noch relativ viel Probenmaterial gebraucht – heute reicht dagegen bereits eine einzelne Zelle aus, um DNA zu gewinnen. Diese wird dann im Labor kopiert und daraus entsteht der genetische Fingerabdruck. Aber so eine einzelne Hautzelle muss man erst mal finden und sichergehen, dass es keine ungewollte Spurenübertragung ist. Genau das ist übrigens ein großes Thema bei der diesjährigen Jahrestagung unserer Fachgesellschaft, der American Academy of Forensic Sciences, und ich stelle dort dazu eine Veröffentlichung mit einem kniffeligen Fall aus unserem Labor vor.

Neben der DNA-Analyse gibt es auch die RNA-Analyse. Wie unterscheiden sie sich und welche Erkenntnisse kann man aus ihr gewinnen?

Superkniffelige Sache, weil RNA so empfindlich ist – bemerken gerade alle beim sehr guten BioNTech-Corona-Impfstoff, der lagerungstechnisch aber eine kleine Diva ist. RNA ist ja in verschiedenen Geweben und Körperflüssigkeiten unterschiedlich, während die Zellkern-Erbsubstanz gleich bleibt. Daher suchen die Kolleginnen und Kollegen nach RNA, um die Gewebe-Art herauszukriegen. Das kann kriminalistisch sehr wichtig sein: Ist es Fett, Speichel, Sperma, vaginales, Gehirn- oder Knochen-„Material“ oder frisches Blut oder Menstruationsblut? Den betreffenden Fall dazu könnt ihr euch ausmalen.

Was ist deine Einschätzung, werden in Zukunft DNA- und RNA-Analysen eine noch größere Rolle spielen bei der Aufklärung von Straftaten?

Wir werden sicher noch viel öfter in Datenbanken nach Verwandten von unbekannten Spurenlegerinnen und Spurenlegern schauen, jau. Es gibt schon Abermillionen von freiwilligen DNA-Spenderinnen und -Spendern, die ihre Familienstammbäume kennen lernen wollen. Das ist eine unerwartete Fundgrube, denn diese Daten sind bereits freiwillig freigegeben, und es genügen schon Verwandte, um die Erbsubstanz der Spur einer Person zuzuordnen.

Welche Risiken birgt eventuell eine zu starke Fokussierung auf die Analyse der Erbsubstanz?

Im Moment reden wir auf Kongressen darüber, dass winzige Spuren natürlich auch beim Vorbeigehen von einer Person auf die andere übertragen werden, etwa Haare oder Haut. Ich bin aber echt erleichtert, dass das jetzt mal gelöst wird, da wir mehrere gruselige Fälle hatten, in denen etwas Ähnliches passiert war und Unschuldige ins Schwitzen gebracht wurden, etwa so: „Wir haben da Ihre Erbsubstanz bei einem Sexualdelikt/einer Tötung gefunden. Möchten Sie dazu etwas sagen?“

Was kann einen auf die falsche Spur bringen?

Man darf nie glauben, dass man weiß, wie etwas funktioniert. Zu denken, dass man im Voraus irgendwie abschätzen kann, was wahrscheinlich und was unwahrscheinlich ist, ob etwas „böse“ oder unmoralisch ist. Denken ist immer ganz, ganz schlecht. Was richtig oder falsch, gut oder böse ist – das geht uns in der Spurenkunde nichts an. Mithilfe von Experimenten können wir Daten sammeln, Fakten überprüfen, messen, dokumentieren, fotografieren, einsammeln. Sonst nichts.

Könnte man bei der Spurensuche oder -sicherung vielleicht etwas verbessern?

In den USA gibt es das weit verbreitete „forensic nursing“. Krankenschwestern und -pfleger lernen dafür, wie sie Spuren bei Sexualdelikten sichern. Das halte ich für superwichtig und notwendig. Bei uns so etwas einzurichten wäre im Grunde genommen nicht viel Arbeit, trotzdem gibt es das noch nicht. In Deutschland ist immer alles streng geregelt und medizinisches Personal, Krankenschwestern oder Krankenpfleger dürfen eben manche Sachen nicht machen. Somit fehlen leider teilweise einfach die Zuständigkeiten, weil jede und jeder die Verantwortung fürs Geldausgeben auf andere schiebt oder es gerne selbst machen und daran verdienen möchte oder keine Zeit hat und so weiter – Rechtsmedizin, Polizei, Politik, Biologinnen und Biologen. So geht das dann immer weiter.

Dabei ist es für die Opfer aber entscheidend, dass die Spuren schnell, sicher und vor allem auch mit persönlichem Fingerspitzengefühl eingesammelt werden – je niederschwelliger, desto besser, finde ich. Wir hatten vor nicht allzu langer Zeit wieder einen ganz gemeinen Fall, bei dem alles daran scheiterte, dass am Anfang beim Abrieb versehentlich Spuren vertauscht wurden. Ganz schlecht! Es wäre wichtig, richtig Geld reinzustecken und Fortbildungsveranstaltungen zu machen, damit die Schwestern und Pfleger darauf aufmerksam werden. Schon innerhalb von fünf bis zehn Jahren könnte man mit der entsprechenden Ausbildung hier locker etwas vorwärtsbringen.

Einerseits wird der Tod tabuisiert, andererseits gibt es sehr großes Interesse an Mord- und Kriminalfällen. Wie passt das zusammen?

Keine Ahnung. Vielleicht, weil das Rätseln spannend ist, so wie alle Rätsel, auch Sudokus und dergleichen? Oder weil es so haarscharf am Thema Sterben vorbeirauscht und ein bisschen kitzelt? Oder weil den Menschen langweilig ist und sie sich daher etwas besonders „Schauerliches“ suchen? Manche würden vielleicht auch gerne mal jemanden umbringen, was ich öfters höre und eigentlich am gruseligsten finde.

Der Tod ist nicht das Ende. Was bedeutet dieser Satz für dich?

Für mich ist der persönliche Tod Teil des ewigen Stoffkreislaufs oder Recyclings: Während des Lebens nimmt man chemische Energie und Stoffe auf und gibt körperlich genauso viel auch wieder ab: Urin, Schweiß, Kot, Hautschuppen, Tränen. Das ist ein schönes Energiegleichgewicht, das wir als Lebewesen haben. Nichts geht verloren . Wir nehmen etwas auf – Zucker, Kohlenhydrate, Fette – und geben wiederum etwas ab: Wärme, Flüssigkeit und so weiter.

Das mögen manche vielleicht als aspergerisch gedacht empfinden. Aber ich fand es schon immer seltsam, dass viele Menschen dieses Gleichgewicht so nicht wahrnehmen. Dass viele denken, sie könnten immer nur nehmen. Das treibt mich wirklich um, denn es ist doch nicht schwer zu verstehen, dass wir mit der ganzen Umwelt verbunden sind und uns am Ende einfach auflösen – wortwörtlich sogar. Was außerdem noch dazukommt und leider auch in Anbetracht der Tatsachen nicht entsprechend ernst genommen wird: Wir erleben gerade das größte Artensterben seit Jahrmillionen. Das haben die Menschen auf ihre Kappe zu nehmen.

Ohne Insekten, Amphibien und Wildblumen gibt es kein Leben. Schon wenn die Regenwürmer sterben, ist eigentlich alles aus, weil es keine Kompostierung mehr gibt und der ganze Energiekreislauf zusammenbricht. Trotzdem ist es leider vielen Menschen egal, dass die Welt gerade untergeht. Sonst würde niemand, wirklich niemand, beispielsweise weiterhin Tierprodukte verwenden. Und das, obwohl die Urwälder doch fast nur gerodet werden, um Futtermittel und Ähnliches anzubauen. Genau das Gleiche gilt übrigens auch für einen Großteil des Wassers, das für die massenhafte Produktion von Tieren draufgeht. Im Grunde genommen leben wir wie größenwahnsinnige Kinder, die mit einem Luftballon in der Hand fröhlich dem Untergang entgegentanzen.

Das Interview führte Jacqueline Farin, PTAheute-Redaktion.



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