Quelle: FHM Magazin, 12/2000, Text: Gordon Detels, Foto: Sedat Mehder
Mark Benecke sägt Köpfe auf (*), untersucht faulige Leichen — und löst so Mordfälle überall auf der Welt
Sie arbeiten weltweit als Kriminalbiologe für mysteriöse Mordfälle. Das muss wie im Krimi sein: Der Kommissar kommt an und Sie sagen ihm, wann die Person gestorben ist.
Das ist Drehbuchquatsch. Man kann nicht ein Tuch hochheben und weiß schon Bescheid. Man muss viele Untersuchungen machen.
Welche Untersuchungen?
Unter dem Vergrößerungsgerät guckt man sich zunächst die Tiere genau an. Aus der Größe kann man darauf schließen, wie lange sie schon auf der Leiche gelebt haben. Das gibt oft einen Hinweis auf den Todeszeitpunkt.
Wie genau kann man Liegezeit und Todeszeitpunkt bestimmen?
Das hängt davon ab, wie viele Tierarten man findet. Man kann die Jahreszeit bestimmen oder im günstigsten Fall den Todeszeitpunkt bis auf die Stunde genau eingrenzen. Und wenn nur noch ein undefinierbarer, breiiger Haufen daliegt ... ... wird es schwierig. Aber bei Vermisstenfällen ist es auch nicht wichtig, wann genau die Person gestorben ist. Da geht es vielmehr darum: Müssen wir in ganz Deutschland eine Suchmeldung machen oder nur bestimmte Vermisstenkarteien durcharbeiten.
Wer lebt denn alles auf einer Leiche?
Sofort nach dem Tod kommen Fliegen und probieren, Eier abzulegen. Das versuchen sie ja auch, wenn du lebst. Aber da merken sie, dass du es nicht magst. Sobald du dich nicht mehr rührst, kommen sie und legen die Eier in Ohren, Nase und Mund. Denn die kleinen Maden können nach dem Schlüpfen nur weiches Gewebe abkratzen. Nacheinander leben die verschiedensten Tiere auf dem Körper. Erst Fliegenarten, dann ein paar Käfer, später Tiere, die vertrocknete Haut fressen können.
Wie stellt man fest, ob Fund- und Tatort identisch sind?
Unter Umständen hat das Opfer Ameisen- oder Kakerlakenfraßspuren im Gesicht wie kleine Straßen. Ich finde aber heraus, dass am Fundort weder Ameisen noch Kakerlaken leben. Außerdem entsteht bei einem Toten Faulleichenflüssigkeit. Wenn die herausfließt, weiß man genau, wo die Leiche gelegen hat. Ich kann den Ort dann auf Maden untersuchen, denn die kriechen von der Leiche herunter und verkrümeln sich an bestimmten Stellen.
Es gab also schon Fälle, die nur durch Ihre Hilfe gelöst wurden?
Ja. Mein letzter Fall war ein Dreifachmord. Da hat ein Mann seine Lebensgefährtin und zwei Kinder getötet. Die Leichen waren in dem Haus auf drei Etagen verteilt. Alle Leichen waren in unterschiedlichen Fäulniszuständen. Die Frage war: Kann man klären, ob der Beklagte die drei Personen innerhalb einer halben Stunde umgebracht hat. Oder ist jemand mehrmals im Haus gewesen und hat sie der Reihe nach umgebracht?
Wieso waren die Leichen unterschiedlich faul?
Weil es unter dem Dach heißer war und die Fäulnis daher beschleunigt. Im Erdgeschoss war es am wenigsten heiß. Ich konnte ausschließen, dass es an verschiedenen Tagen passiert war. Und der Mann hatte kein Alibi für den ermittelten Zeitraum. Zusammen mit anderen Indizien war dann klar, dass er es gewesen sein musste.
Gibt es Mörder, die Sie biologisch austricksen können?
Das ist das Gute an der Insektenwelt. Da kennt sich kein Mensch so gut aus, dass er manipulieren kann. Bei einem genetischen Fingerabdruck wäre es möglich. Da nehme ich jemandem Blut ab, begehe ein Verbrechen und verspritze das am Tatort. Aber das ist auch Schwachsinn, weil keiner weiß, wie er es hinspritzen muss, damit es echt aussieht.
Haben Sie einen Lieblingsfall?
In einem aufgesägten Kopf saß nur eine Fliege drin. Zu Hause konnte ich mich dann mit den Akten in den Fall einarbeiten. Das war Sherlock-Holmes-mäßig spannend. Doch wenn man eine Leiche hat, die mit vielen Arten besiedelt ist, kann das ähnlich aufregend sein. Da fragt man sich: Was machen die Tiere denn da? Der Weberknecht mag kein Leichengewebe. Was hat der da zu suchen? Der frisst andere Tiere, die auf der Leiche leben. Die Milben lassen sich von einem Käfer, der auch hier lebt, hin- und hertransportieren. Unter der Leiche sind Asseln, die nur Pflanzen fressen. Wieso sind die hier? Die schützen sich unter der Leiche, benutzen das als Häuschen.
Was haben Sie in New York gemacht?
Ich habe dort wegen meiner Qualifikation durch das Studium am Institut für Rechtsmedizin arbeiten können und habe On-the-Job-Trainings gemacht: genetische Fingerabdrücke, das Auffinden versteckter Gräber und Blutspritzerkurse. Da lernt man, was Blutspritzermuster an der Wand über den Tathergang sagen.
Gibt es viele Experten wie Sie?
Weltweit nur 20. Ich habe ein Handy, das ich nie ausschalte und bin für die Polizei stets erreichbar. Ich arbeite längst nicht mehr nur in New York. Meine Basis ist mittlerweile wieder Köln. In Vietnam, auf den Philippinen und in Kolumbien habe ich Speziallabors eingerichtet. Die kolumbianische Hauptstadt Bogotä ist ein richtiges Paradies: so viele Leichen! Viel mehr als in Manhattan. Und wegen der Hitze verlaufen die Verwesungsprozesse dort auch viel schneller als hier zu Lande. Ansonsten unterrichte ich überall auf der Welt, in Deutschland beispielsweise beim BKA.
Und wieso müssen Sie nicht kotzen, wenn Sie eine Faulleiche anschauen?
Faulleichen sind so zerfallen und verwest. Die haben keine Züge mehr, die man mit einem Individuum in Verbindung bringen kann. Und an den Geruch gewöhnt man sich.
Empfinden Sie etwas für Insekten?
Für mich sind sie ein Teil des Kreislaufs des Lebens. Sie sind normal. Wenn bei mir in New York eine Kakerlake durch das Zimmer läudt, dann lasse ich sie in die Zimmerecke gehen oder trage sie raus. Ich laufe ihr nicht wild hinterher, um sie zu töten.
Wann haben Sie ihre erste Leiche untersucht?
1992, während des Studiums. Da habe ich ein Praktikum in der Rechtsmedizin gemacht, genetische Fingerabdrücke erstellt. Weil das eine neue Methode war, haben sie das Labor in den Keller verbannt, direkt neben den Obduktionsraum. Da, wo früher Affen für Experimente gezüchtet wurden. Da bin ich mal rübergegangen. Ich konnte die Faulleichen durch den Abzugsschacht riechen.
Und?
Ich war neugierig und habe geschaut, was da auf der Leiche passiert. Schließlich hat man mich um Rat gefragt, wollte wissen, was ich da mache. So fing alles an.
Wie wurden Sie ausgebildet?
Als Biologe. Am Institut für Rechtsmedizin in Köln habe ich promoviert. In New York bin ich später von der Polizei und dem FBI zum Kriminalisten ausgebildet worden. Die Kombination ist sehr selten, vielleicht sogar einmalig.
Wären Sie nach ihrem Tod gern ein Fressen für die Maden?
Ich fände das natürlich, aber ich würde nicht sagen: Bitte schmeißt mich in den Wald. Denn 99 Prozent aller Leute, die ich kenne, würden das nicht so gerne sehen.
Und bei freier Entscheidung?
Ich fände es gut, beim Spazierengehen tot umzufallen und erst nach vier Wochen im Wald gefunden zu werden.
Gibt es noch etwas, wovor Sie sich ekeln?
Eigentlich nur Leberwurstbrote.
Interview: Gordon Detels
Mark Benecke, 30, arbeitet von Köln aus weltweit als freier kriminalbiologischer Berater (www.benecke.com).
(*) laut Redaktion...