Und am Ende essen wir Maden

Quelle: https://www.zeit.de/2020/37/mark-benecker-insekten-forensik-umweltschutz/komplettansicht (Online), DIE ZEIT Nr. 37/2020, 3. September 2020

Wie könnte die Welt aussehen, wenn es keine Insekten mehr gäbe? Ein Gespräch mit dem Kölner Forensiker Mark Benecke über Tagfalter und den Tod

Von Merlind Theile

DIE ZEIT: Herr Benecke, Sie sind Kriminalbiologe. Welche Rolle spielen Insekten in Ihrer Arbeit?

Mark Benecke: Eine ziemlich interessante. Mithilfe von Insekten können wir hin und wieder bestimmen, wann und unter welchen Umständen ein Mensch gestorben ist. Zum Beispiel durch die Größe von Schmeißfliegenlarven, die man auf einer Leiche findet. Die sind eine Art Uhr. Außerdem nehmen manche Insekten Gifte aus dem Körper auf. An denen kann man teilweise erkennen, ob jemand vergiftet wurde, wenn der Mensch selbst schon längst verwest ist. Und dann gibt es noch Spezialtechniken, die etwa bei Sexualdelikten zum Einsatz kommen. Manche Maden nehmen Täterzellen auf, Spermienköpfe oder so etwas. So können diese Maden dabei helfen, den Ablauf von Verbrechen zu verstehen.

Können Menschen eigentlich auch ohne Insekten verwesen?

Ja, durch Selbstzersetzung, das nennt sich Autolyse. Aber wenn es darum geht, die Umstände eines Todes zu beleuchten, zum Beispiel bei jahrhundertealten Mumien, liefern Insektenreste oft die einzigen Informationen.

Sie halten viele Vorträge, Ihr Publikum reicht von Schulklassen bis zu Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Dabei wollen Sie auch auf das akute Insektensterben aufmerksam machen. Hilft Ihr kriminalbiologischer Hintergrund, um Menschen für diese Spezies zu interessieren?

Das Interesse an Kriminalfällen ist tatsächlich groß, darüber kann man natürlich ganz gut Brücken zum Thema Insekten schlagen. Inwiefern ich kriminalistisch ins Detail gehe, hängt vom Alter der Zuhörer ab. Für kleine Kinder habe ich mal ein Bilderbuch über eine verwesende Maus gemacht, Wo bleibt die Maus?. Damit kriegt man die Kinder immer, denn sie ekeln sich nicht. Ältere Schülerinnen und Schüler sind schon stark von Fridays for Future oder Extinction Rebellion beeinflusst, die kennen längst die ganzen Zusammenhänge zwischen Insektensterben, Klimawandel und Landnutzung, da kann man dann schon anders ins Thema einsteigen.

Sie haben sich dieses Jahr auch wieder beim "Insektensommer" des Naturschutzbunds engagiert, bei dem die Deutschen aufgerufen waren, in ihren eigenen Gärten und Hinterhöfen Insekten zu zählen. Was bringen solche Aktionen?

Ich finde diese Citizen Science, also "Bürgerwissenschaft", total gut, weil sie die Leute für ihre Umwelt interessiert und begeistert. Menschen haben Spaß daran, allein oder mit ihrer Familie Käfer zu zählen. Ich freue mich über diese ganzen Nerds auf Zeit. Und die Daten, die dabei zusammenkommen, sind auch nicht schlecht.

Welche Tendenzen zeigen diese "Insektensommer", die seit 2018 stattfinden?

Bestimmte Arten verbreiten sich immer weiter vom Süden in den Norden, Baumwanzen zum Beispiel, blaue Holzbienen oder orientalische Mauerwespen tauchen bei uns plötzlich vermehrt auf. Diese Zunahme ist einerseits eine gute Nachricht, andererseits hängt sie mit dem Klimawandel zusammen – sie unterstützt ja die Beobachtung, dass es bei uns immer wärmer wird. Insgesamt nehmen Zahl und Artenreichtum der Insekten bei uns deutlich ab.

In der breiteren Öffentlichkeit ist das Insektensterben spätestens seit 2017 ein Thema, als eine Studie Krefelder Experten zeigte, dass Insekten in Naturschutzgebieten um mehr als 75 Prozent zurückgegangen sind. In den USA dagegen ergab eine Studie kürzlich, dass Biomasse und Artenreichtum bei Insekten gleich geblieben seien oder sogar zugenommen hätten. Was stimmt denn nun?

Beides sind nur Schlaglichter. Die internationale Forschergemeinschaft setzt gerade die Studien der vergangenen fünf Jahre zusammen. Da gibt es keinen Zweifel, dass auch die Insekten Teil des sechsten Massensterbens sind, das gerade auf der Welt stattfindet, das fünfte war die Auslöschung der Dinosaurier. Wir erleben zurzeit die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte.

Was sind die Hauptursachen für das Insektensterben?

Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, Land- und Wassernutzung durch den Menschen, überwiegend zur Aufzucht und Haltung von Nutztieren. Vor allem durch die bisherige Art der Landwirtschaft und Ernährung schwinden die Lebensräume für Insekten.

Warum ist es so dramatisch, wenn Köcherfliegen oder Tagfalter verschwinden?

Symbolisch gesprochen ist jede Insektenart ein Knoten in einem Fischernetz. Je mehr Knoten man herausschneidet, desto löchriger wird das Netz, bis man es irgendwann vergessen kann. Wenn die Insekten sterben, ist die Grundlage unseres Ökosystems futsch. Natürliche Bestäubung zum Beispiel findet dann nicht mehr statt. Apfelblüten werden in der Folge vielleicht noch von Schulkindern in den Ferien bestäubt. In China passiert das schon. Letztlich könnte die Menschheit enden wie im Film Bladerunner 2049. Da essen die Leute nur noch Maden, weil es nix anderes mehr gibt.

Das klingt jetzt sehr nach Hollywood. Wie realistisch ist so ein Szenario?

Ich halte es für realistisch, dass die Kulturtechnik der massenhaften Nutztierhaltung irgendwann verboten wird, da die biologischen Quellen des Planeten dafür in der Zukunft gar nicht mehr ausreichen würden. Wenn man das zu Ende denkt, ließe sich tierisches Protein für den Massenverbrauch tatsächlich nur noch aus bestimmten Insektenarten gewinnen.

Unternimmt die Politik aus Ihrer Sicht das Richtige, um Insekten zu schützen?

Meiner Meinung nach wird das Thema eigentlich nicht behandelt. Wenn es politisch ernst genommen würde, müsste das ganze Geschwätz über wirtschaftliche Schwierigkeiten und die klassischen landwirtschaftlichen Interessen sofort aufhören, weil uns die Erde wegbrennt. Diese Kosten kann niemand mehr einfangen.

Warum sind die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nur Geschwätz?

Weil sich problemlos alle wirtschaftlichen Kreisläufe aufrechterhalten ließen, wenn man die Landwirtschaft umstellen würde – also weg von der heutigen Massentierhaltung. Gesunde Landwirtschaft ist ja total arbeitsintensiv. Es würde nicht weniger Arbeitsplätze geben, nur würde sich deren Inhalt verändern. Außerdem könnte Deutschland, statt einer der wichtigsten Exporteure tierischer Produkte zu sein, ein Vorreiter bei neuen ökologischen Techniken werden. Deswegen halte ich die Warnungen vor Jobverlusten und dem Einbruch des Bruttosozialprodukts für vorgeschoben.

Sie selbst sind in Nordrhein-Westfalen Landesvorsitzender von der PARTEI, deren Wesenskern die Satire ist. Inwiefern helfen Sie damit den Insekten?

Es gibt bei der PARTEI viel Quatsch und Chaos, aber mir geht es darum, menschen- und naturfreundlich zu handeln. Ich bin hier in Köln, auch im Kommunalwahlkampf, viel in sogenannten sozioökonomisch schwächeren Gegenden unterwegs, Hochhausghettos, die keinen interessieren. Da setze ich mich dann zum Beispiel hin und esse Fritten. Und komme mit Leuten ins Gespräch, mit denen sonst noch nie ein Politiker geredet hat. Dort kann ich entspannt erklären, warum Fritten besser sind als Döner. Und was das mit der Umwelt und den Insekten zu tun hat. Die Leute merken: Okay, das ist ein netter Typ, der schleimt nicht rum, der nimmt uns ernst. Und am Ende kann so ein Gespräch bewirken, dass ein Einzelner tatsächlich sein Verhalten ändert. Denn darum geht es.



Insektensterben

Literaturübersicht & Artikel


Klima- & Artenschutz-Demos

Cottbus, Köln und Berlin 2020


Es gibt keine Nutztiere

Greenpeace 2020


Hochauflösende Aufnahmen

von Fliegen


São Paulo Declaration

on Planetary Health


Umweltfest Berlin 2022

vegane Bühne mit Mark & Ines


Insekten als Nahrungsmittel der Zukunft?

Interview mit Mark


Warum Insekten essen keine gute Idee ist

Radio-Interview, 2023


Insekten essen

PeTA 2018


Warum Ess-Insekten keine gute Idee sind

weekend.at | Interview