Forensiker Benecke: "Schlechte Idee, die Leiche wegzuwerfen"

Quelle: t-online, 18. Januar 2023, https://www.t-online.de/region/hamburg/id_100114080/leichenteile-in-hamburger-kanal-forensiker-all-das-kann-hinweise-geben-.html

Von Gregory Dauber

Rätselhafte Leichenteile in Hamburg

Kriminalbiologe Mark Benecke steht in einer Bibliothek: Er promovierte über genetische Fingerabdrücke. (Quelle: Claus Pütz)

Nach Funden menschlicher Knochen in Hamburg müssen die Experten ran: Kriminalbiologe Mark Benecke erklärt t-online, welche Möglichkeiten die Ermittler haben.

Innerhalb von vier Tagen wurden an zwei Orten in Hamburg stark verweste Überreste von menschlichen Körpern gefunden. Von wem die Knochen stammen, ist noch völlig unklar. Im Interview mit t-online gibt Kriminalbiologe und Forensiker Mark Benecke Einblick in die Arbeit der Ermittler, die die Identitäten stark verwester Leichen aufklären wollen.

Auch am Mittwoch hat die Polizei nach weiteren Knochen im Ernst-August-Kanal gesucht. Dort hatte ein Angler am Sonntag Leichenteile entdeckt. Erste Hinweise auf das mögliche Geschlecht des Opfers gaben gefundene Schuhe – lesen Sie hier mehr dazu.

t-online: Herr Benecke, ist das aus Tätersicht eine gute Idee, eine Leiche im Wasser verschwinden zu lassen?

Mark Benecke: Ich finde es grundsätzlich eine schlechte Idee, wenn man sich als Täterin oder Täter um eine Leiche kümmern muss. Die zweite schlechte Idee ist, die Leiche wegzuwerfen. Spurentechnisch ist es deswegen nicht klug, weil alleine durch das Herumfahren und durch die Verwendung von Gegenständen, seien es Verpackungsgegenstände oder welche zum Zerstückeln, viele Spuren gelegt werden. All das kann der Polizei und uns Hinweise geben. Es ist also aus jeder nur vorstellbaren Sicht nicht clever.

Die Polizei spricht von skelettierten Leichenteilen. Heißt das zwangsläufig, dass die Leiche schon in Einzelteilen ins Wasser gekommen ist? Oder kann die Leiche durch die Verwesung auseinandergefallen sein?

Im Kanal gefundene Teile wurden von Spezialisten der Polizei in Tüten verpackt: Im Ernst-August-Kanal in Hamburg-Wilhelmsburg wurden Knochen gefunden. (Quelle: Bodo Marks/dpa-bilder)

Es gibt viele Möglichkeiten, wie Leichen, wenn sie sehr, sehr stark verfault sind, auch auseinanderfallen und dann durch Strömungen an verschiedene Stellen getrieben werden können. Am bekanntesten sind die Menschenfüße in Turnschuhen, die seit vielen Jahren durch die Gegend schwimmen. So ähnlich war das vielleicht ja auch in diesem Fall. In Deutschland gibt es nicht so viele Gewässer, in denen genügend Strömung ist, die die Leichenteile auseinandertreiben würde. Häufiger ist es so, dass die Leiche vorher zerteilt wurde. Man muss das aber in jedem Einzelfall durch Experimente prüfen und an den Knochen selber gucken, ob da beispielsweise Sägespuren zu finden sind.

An dieser Stelle muss wohl von einer eher geringeren Strömung ausgegangen werden.

Es gibt natürlich auch noch die Möglichkeit, dass manche Tiere Teile hin- und hertragen. Das kann an Land und auch im Wasser passieren. Die häufigste Beobachtung ist, dass Leichen im Wasser ohne Strömung und ohne große Tiere eher zusammenbleiben.

Wie kann man überhaupt sicherstellen, dass die verschiedenen Knochen, die da gefunden wurden, auch wirklich von demselben Körper stammen?

Ich kenne das Problem, aber da gibt es viele Techniken. Der erste Schritt ist, alle Knochen und Gewebe-Stücke in Form eines Menschen auszulegen. So kriegt man relativ schnell raus, ob jeder Knochen nur einmal vorhanden ist. Wenn das so ist und an dem Fundort normalerweise keine Menschenknochen zu finden sind, kann man davon ausgehen, dass es sich um ein einziges Skelett handelt. Wenn es aber unklar ist, lässt sich das auch mittels DNA klären. Ich habe früher in der Rechtsmedizin in New York gearbeitet, da hatte man nach dem 11. September Erfahrungen damit, weil es sehr viele Gewebe- und Knochenstückchen gab. Von allem, was damals größer als ein Fingernagel war, wurde ein genetischer Fingerabdruck gemacht. Das ist aber ein extremer Unterschied zu dem hier vorliegenden Fall, der so wirkt, als sei das leichter aufzuklären.

An den gefundenen Knochen in Hamburg soll es auch Gewebereste geben. Wie lange dauert es, bis Leichen oder Leichenteile in einen solchen Zustand kommen?

Das kann sehr schnell gehen, wenn es zum Beispiel warm und feucht ist und die Leiche am Ufer liegt. Da sprechen wir von wenigen Tagen. Es kann aber auch total lange dauern, wenn die Leiche in kaltem, sauerstoffarmem Wasser liegt. Die Bakterien fressen da nicht so schnell, und eventuell kommen auch keine großen Tiere dran – das hängt also vom Gewässer ab.

Was bedeutet in diesem Kontext eine lange Dauer?

Der Extremfall ist, dass die Leichen in kaltem Wasser so tief sinken – wie zum Beispiel bei der Titanic –, dass sie überhaupt nicht mehr hochkommen. Da liegen die Leichen jahrelang und am Ende haben sie sich aufgelöst, einschließlich der Knochen.

Können Ermittler nach so langer Zeit im Wasser noch DNA finden?

Ein Taucher übergibt ein Fundstück aus dem Ernst-August-Kanal der Spurensicherung. (Quelle: André Lenthe Fotografie)

In jeder Zelle des menschlichen Körpers ist der gesamte genetische Fingerabdruck zu finden, außer in roten Blutzellen. Wenn im Wasser wirklich gute Erhaltungsbedingungen herrschten, könnten mithilfe neuester Techniken sogar einzelne Zellen der Person zu finden sein, die den Menschen getötet und möglicherweise zerstückelt hat. Erbgut von der Leiche zu finden, ist überhaupt kein Problem. Die kann man aus den Knochen oder Zähnen entnehmen. Bis wirklich überhaupt kein Erbgut zu finden ist, muss sehr viel Zeit vergehen. Wenn die Knochen außerdem heil und eben nicht zersägt sind, hält sich das Erbgut darin noch länger.

Was wird dann mit dem gefundenen Erbgut gemacht? Gibt es dafür große Datenbanken?

Ja, aber die sind kleiner, als manche glauben. Datenschutzrechtlich ist das natürlich gut, kriminalistisch nicht. Selbst der genetische Fingerabdruck von Straftäterinnen und Straftätern muss irgendwann gelöscht werden, wenn es nicht ein sehr schweres Verbrechen war. Was die Leiche betrifft, fragen wir die Angehörigen einer verschwundenen Person, ob sie freiwillig ihr Erbgut spenden, um einen Verwandtschaftstest zu machen.

Gibt es also keinen Standardprozess, die DNA von vermissten Personen zu sichern für den Fall, dass irgendwann mal was gefunden wird?

Nein, weil die meisten vermissten Personen lebend wieder auftauchen. Das in allen Fällen zu machen, wäre ein sehr großer Aufwand. Außerdem ist das für die Angehörigen natürlich auch ein schlechtes Zeichen, wenn die Polizei kommt und Erbgut will, um sie mit einer Leiche abzugleichen. Da muss es schon eindeutige Hinweise geben.

Wie oft werden Fälle, in denen Knochen oder Leichenteile in so einem starken Verwesungszustand gefunden werden, überhaupt aufgeklärt?

Das ist regional sehr unterschiedlich. Wo es viele Gewässer gibt, haben die örtlichen Institute für Rechtsmedizin und die Polizei mehr Erfahrung damit, als wenn es in irgendeinem kleinen Örtchen passiert, wo im Dorfteich das erste Mal seit 100 Jahren eine Wasserleiche auftaucht. Um Mikrospuren richtig zu sichern, braucht es schon eine gewisse Erfahrung, ganz besonders, wenn die Spuren im Wasser sind, weil sie dort allein durch die Bergung der Leiche weggespült werden können. Außerdem muss die verschwundene Person überhaupt bekannt sein. Es gibt ja auch viele Leute, die sich in Deutschland aufhalten, ohne dass eine Behörde von ihnen weiß – dann finden wir auch keine Verwandten zum Testen.

Lassen Sie uns noch mal über den möglichen Täter sprechen. Jemand, der eine Leiche im Wasser entsorgt, beschwert und womöglich zerstückelt – ist das jemand, der erst einmal Hunderte Kilometer fährt, um die Leiche zu entsorgen?

Gerade für Täter und Täterinnen, die aus dem Moment heraus gehandelt haben, stellt sich erst mal die Frage: Wohin mit der Leiche? Da kann dann alles passieren. Entweder sie sagen sich, ich verwische die Spur so stark wie möglich und fahre wirklich weg und nehme in Kauf, dass ich vielleicht kontrolliert werde. Oder es gibt Leute, die fahren dann zu einem Ort in der Nähe, den sie kennen und für geeignet halten. Andere geraten völlig in Panik und verstecken die Leiche nachts, und am nächsten Morgen wird sie direkt gefunden. Da gibt es überhaupt keine Gesetzmäßigkeiten oder Regelmäßigkeiten beim Loswerden der Leiche.


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