Quelle: Freies Wort, Südthüringer Zeitung und Meininger Tageblatt, 12. Nov. 2019
Von Alexandra Paulfranz
Dank moderner Kriminaltechnik kommen Ermittler heute Straftätern immer häufiger auf die Spur. Doch wie funktionieren diese Methoden genau? Der Fall der Babyleiche im Ilm-Kreis ist exemplarisch.
Die Frau soll aus Mitteldeutschland stammen. Nicht Europa, Mitteleuropa oder Deutschland – nein, Mitteldeutschland. Diese Information veröffentlichen die Gothaer Ermittler im Fall der zu Ostern entdeckten Babyleiche bei Geschwenda im Ilm-Kreis vor einigen Wochen, nur wenige Stunden bevor sie über die Fernsehsendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ deutschlandweit nach der Mutter suchen. So erstaunlich präzise, wie die Polizisten benennen können, woher die Frau höchstwahrscheinlich kommt, würde es kaum verwundern, wenn sich sogar noch der exakte Landkreis bestimmen ließe. Die moderne Kriminaltechnik scheint‘s möglich zu machen. Genauso spektakulär wie ihr Ergebnis klingt der Name der Untersuchungsmethode: Isotopenanalyse.
Doch was ist das eigentlich genau? Einer, der es wissen muss, ist Mark Benecke – Kriminalbiologe, Sachverständiger für biologische Spuren, Fachbuchautor und auch schon auf den Bühnen im CCS in Suhl und kürzlich im Coburger Kongresshaus unterwegs gewesen. Jede solche Ermittlung, sagt er, beginne mit der Spurensicherung am Tatort. Und da gibt es einiges aufzulesen. Unter anderem sogenannte Formspuren – wie von Reifen, Handschuhen, Bissen oder Glasbruch –, Gegenstände wie Waffen oder Dokumente – wie beispielsweise Pässe oder Urkunden –, Computerdaten oder eben menschliche Spuren wie Fingerabdrücke oder DNS.
Findet sich nach einem Verbrechen ein ganzer Körper oder zumindest Teile davon, kann die Isotopenanalyse helfen herauszufinden, wo der Tote gelebt hat. Sie wird noch nicht allzu lange eingesetzt – wenngleich bereits in den 1980er Jahren „erste solide Berichte“ zu nahrungsabhängigen Isotopenwerten in Haaren aufgetaucht sind, wie Mark Benecke sagt. Um die Herkunft unbekannter Toter zu ermitteln, wird das Verfahren allerdings erst seit den 2000er Jahren angewandt. Das Verfahren bietet gegenüber der DNS-Analyse den Vorteil, dass es mehr über den Lebensstil einer Person aussagt. Fahnder kommen den Verbrechern dadurch heute immer häufiger auf die Spur.
Isotope sind unterschiedlich schwere Atom-Arten eines Elements. Der menschliche Körper nimmt durch Nahrung, Getränke und Umwelt die Bio-Elemente Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Schwefel und die Geo-Elemente Strontium und Blei auf. Deren Isotopenwerte sind je nach Region unterschiedlich. Das bedeutet, dass sich im IsotopenMuster einer Person zeigt, wo sie ungefähr zu Hause ist. Auch, wo der Tote aufgewachsen, wann er womöglich in ein anderes Land gezogen ist, ob er am Meer gelebt und wie er sich ernährt hat.
Das Verhältnis von Wasserstoff und Sauerstoff gibt beispielsweise Auskunft über das jeweilige Klima. Die Menge an Stickstoff sagt etwas darüber, ob jemand viel Fleisch, Fisch oder Milchprodukte gegessen hat. Oder der Kohlenstoff: Weil in den USA viel Mais gegessen wird und Zuckerrohr die Lebensmittel süß macht – beides Pflanzen mit hohen Kohlenstoff-Isotopenwerten – lässt sich mit einem Blick auf diese Werte ein USAmerikaner von einem Europäer unterscheiden.
In Europa liegen eher Getreide und Kartoffeln auf dem Teller, gesüßt wird mit Zucker aus Rüben. Je öfter jemand in seinem Leben umgezogen ist, umso schwieriger wird es, aus seinen Daten Schlüsse zu ziehen. Für die Interpretation der Isotopen-Sig- naturen in Keratin und Kollagen wird eine Datenbank herangezogen, für die Haare weltweit zusammengesammelt und analysiert wurden.
Anders als bei der DNS-Analyse reicht für die Isotopen-Untersuchung allerdings nicht nur ein Haar oder ein Hautpartikel. „Ein Büschel Haare ist gut, Knochen sind besser“, erklärt Mark Benecke. Denn Isotope werden in die Knochen eingebaut. Weil sich Knochen im Laufe des Lebens erneuern, lassen sich daran zumindest Informationen über die letzten Lebensjahre nachvollziehen. Zähne hingegen verändern sich kaum, sodass man an ihnen etwas über die ersten Jahre nach der Geburt ablesen kann, gar die Dauer der Stillzeit.
Vererbt werden diese Spuren jedoch nicht, sagt Mark Benecke. Trotzdem können die Ermittler im Fall der Babyleiche von Geschwenda auf die Herkunft der Mutter schließen. Denn: „Die Mutter und das in der Mutter heranwachsende Kind nehmen dieselben Stoffe aus der Umwelt auf“, erklärt der Kriminalbiologe. „Daher haben sie dieselben Isotopen in ihrem ‚neuen‘ Gewebe.“ Und was ist nun typisch für Mitteldeutschland? So einfach ist das alles nicht: Das sagt Christine Lehn, promovierte Biologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Rechtsmedizin der Universität München. Sie hat das Gutachten für die Gothaer Polizei geschrieben und interpretiert. „Was wir der Polizei an die Hand geben, sind Wahrscheinlichkeiten“, erklärt sie. Denn die Rechtsmedizin arbeitet per Ausschlussprinzip. Im konkreten Fall bedeutet das: „Die Werte sprechen nicht dagegen, dass die Mutter aus der Region kommt.“
Es gebe keinen Hinweis auf einen Migrationshintergrund. Die Frau habe in den letzten Schwangerschaftsmonaten keine Fernreise unternommen und sich allgemein so ernährt, wie es typisch für Deutschland sei — mit dem zu erwartenden Anteil tierischen Eiweißes (sie ist also keine Veganerin) und dem landesüblichen Weizen-Anteil. Der Mais-Anteil liege nicht auffällig höher, was eine Herkunft aus südund osteuropäischen Ländern, Asien, Afrika oder den USA unwahrscheinlich macht. „Außerdem hat sie wohl nicht viel Meeresfisch gegessen, was ansonsten auf Norddeutschland schließen lassen könnte“, so Christine Lehn weiter. Genauso sei abzulesen, dass sie keine besonderen Krankheiten oder Unverträglichkeiten hatte.
Klimatisch ließen sich über die Isotopen-Analyse wärmere von kälteren Regionen unterscheiden. Und auch da befänden sich die Werte des Babys „absolut im Mittel“. Noch aber, sagt die Expertin, seien nicht alle Untersuchungen abgeschlossen. Die Werte der Geo-Elemente Strontium und Blei stünden noch aus – damit beschäftige sich die Freie Universität Amsterdam in den Niederlanden. Aus ihnen ließen sich dann Rückschlüsse ziehen, wo sich eine Person in der Zeit kurz vor ihrem Tod aufgehalten oder wo sie ihre Kindheit verbracht habe, teilt die promovierte Wissenschaftlerin Lisette Kootker von der Uni Amsterdam mit. Weil sich die Isotopenwerte gerade von Blei in Deutschland und dem Rest Europas ähneln, könnten sie nur in Verbindung mit den übrigen Ergebnissen, die bei der Rechtsmedizin in München vorliegen, ausgewertet werden. Und auch das wieder nur übers Ausschlussprinzip.
„Man kann aus den Isotopen-Werten keine genaue Adresse der Kindsmutter herauslesen. Aber sie geben uns Hinweise über ihre Herkunftsregion und die Lebensumstände“, fasst Christine Lehn zusammen. „Es handelt sich um zusätzliche Puzzleteile, die der Polizei in ihren Ermittlungen weiterhelfen können.“ In der Vergangenheit habe mitunter der Zufall eine Rolle bei der Aufklärung des Falls gespielt – beispielsweise, wenn die Gesuchte durch irgendeinen anderen Vorfall polizeilich erfasst wurde. Das könne durchaus auch für Geschwenda gelten.
Noch immer aber gilt die DNS-Analyse als Goldstandard in der Rechtsmedizin. Die DNS trägt die Erbinformation eines Menschen. Aus ihr lassen sich Dinge wie geografische Herkunft, Augenund Haarfarbe ablesen. Und: Sie wird von Generation zu Generation weitergegeben. Bei verwandten Menschen ähnele sich die DNS – für bestimmte Bereiche der Erbsubstanz gelte das auch über mehrere Generationen hinweg, erklärt Mark Benecke. So lässt sich bestimmen, wer mit wem irgendwie verwandtschaftlich in Beziehung steht.
Genau über diesen Weg haben Ermittler der Coburger Polizei jetzt versucht, denen Mann zu finden, der vor 13 Jahren den damals 61-jährigen Norbert Ottinger in seinem Einkaufsmarkt in Mitwitz im oberfränkischen Landkreis Kronach mit Schlägen und Messerstichen umgebracht und 30 000 Euro aus einem Tresor gestohlen haben soll. Auch dieser Fall ist in der Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ zu sehen gewesen: Einmal im Sommer 2007, neun Monate nach der Tat, und ein zweites Mal in der Oktobersendung vor wenigen Wochen. Denn trotz intensiver und lang andauernder Ermittlungen können die Beamten das Verbrechen in all der Zeit nicht aufklären.
Vor rund einem Jahr wird der Fall neu aufgerollt. Spurensicherungs-Experten ist es nach der Tat am 13. November 2006 gelungen, neben zahlreichen anderen Mikrospuren auch eine mit bloßem Auge nicht sichtbare Hautschuppe des Täters zu sichern. Inzwischen hat sich die Kriminaltechnik so weiterentwickelt, dass daraus ein vollständiges DNS-Muster des mutmaßlichen Mörders erstellt werden konnte. „Damit kann dann nach ähnlicher DNS gesucht werden – bei möglichen Verwandten und in der polizeilichen Datenbank“, erklärt Mark Benecke.
Im Frühling dieses Jahres haben die Ermittler begonnen, Speichelproben in der Region zu sammeln. Kontrolliert wurden Männer, die zum Tatzeitpunkt zwischen 16 und 18 Jahre alt waren. In dieser Altersklasse vermuten die Beamten den Täter. Das Ergebnis der Proben soll in den nächsten Wochen vorliegen. Kriminalhauptkommissarin Susanne Mechtold sagt dieser Tage in „Aktenzeichen XY ungelöst“, dass der Mann zum Tatzeitpunkt sehr jung gewesen sein muss und den Überfall offenbar nicht gut geplant habe. Vermutlich habe er Norbert Ottinger nie umbringen wollen, die Situation im Einkaufsmarkt sei schlicht eskaliert. Deswegen suchen die Ermittler nun nach Hinweisen zu jungen Männern, die sich damals charakterlich verändert, womöglich zurückgezogen haben.
„Täter könnte auch der höfliche junge Mann von nebenan sein“, so Mechthold. Noch während der Ausstrahlung gehen viel versprechende Anrufe im Studio ein, genauso wie im Polizeipräsidium Oberfranken. Insgesamt sind es 48. Ob der entscheidende Hinweis zur Klärung des Falls dabei ist, wird sich zeigen.
„Ohne naturwissenschaftliche Spuren fehlt das Fundament des Falles. Aber manchmal gehen Spuren auch verloren oder wurden nie eingesammelt“, erklärt Mark Benecke. „Dann übernehmen Befragungs-Profis die Sache und versuchen, ein sauberes Geständnis von Täterin oder Täter zu erhalten. Doch ob dieses stimmt, lässt sich eigentlich nur durch Spuren prüfen... und damit schließt sich der Kreis.“
"Was wir der Polizei an die Hand geben, sind Wahrscheinlichkeiten. “ Christine Lehn, Institut für Rechtsmedizin in München
"Ohne naturwissenschaftliche Spuren fehlt das Fundament des Falles." Mark Benecke, Kriminalbiologe
— Mit vielem Dank an die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung —