Quelle: TNT — Magazin der Fachschaft Chemie der Technischen Universität (TU) Darmstasdt TNT 63/2019, Seite 36—38 (Mai 2019)
Von Han Dittmar
Die Liste der Absurditäten um den Dipl.-Biol. Dr. rer. medic., M.Sc., Ph.D. Mark Benecke ist schier unerschöpflich: Landesvorsitzender von DIE PARTEI in NRW, Mitglied der Kölner Donaldisten, regelmäßiger Moderator auf dem Amphi-Festival, überzeugter Veganer, von Kopf bis Fuß tätowiert, ehemaliger Mitarbeiter bei Körperwelten, Vorsitzender der Deutschen Dracula-Gesellschaft, Mitglied des Komitees des Nobelpreises für kuriose wissenschaftliche Forschungen und laut radioeins der bekannteste Kriminalbiologe der Welt. „Wer seinen Job liebt, kann auch drei- oder viermal so viel arbeiten."
Daran, dass Benecke seine Berufung gefunden hat, lässt er bei seinem Vortrag Body Farm in der Centralstation keinen Zweifel. Seine Frau und er haben keine eigene Wohnung; wenn, dann schlafen sie mal im Labor, ansonsten sind die beiden permanent auf Achse. Seit 25 Jahren geht Benecke in den kriminalbiologischen Instituten der verschiedensten Länder ein und aus, teilweise war er selbst der treibende Faktor bei deren Gründung. Flüge zahlt er selbst, Hotels sind immer wieder so eine Sache, oft bekommt er gesagt, dass er sich einen Fall gern mal anschauen könne, er dafür aber kein Geld erwarten dürfe.
Dennoch erledigt er nicht nur seine Arbeit als Kriminalbiologe und Sachverständiger mit Leidenschaft, sondern tourt mit mehreren Vorträgen in unglaublichem Tempo durch die Weltgeschichte und hält Fortbildungen für FBI und Co., um auch andere an seinen Erfahrungen teilhaben zu lassen. Als Kern seines Jobs als Kriminalbiologe stellt Benecke das kindliche unwertende Beobachten dar. „Alles ist 'ne Spur. Ob die Bedeutung hat, ist 'ne andere Sache. Aber das lösen Sie nicht durch denken. Denken ist schlecht."
Das Lösen von Fällen erfordert selbstverständlich das Kombinieren anhand von Spuren und letztlich eine Wertung der Ereignisse; als Sachverständiger muss auch Benecke bisweilen wertende Einschätzungen vor Gericht äußern. In erster Linie gilt aber: „Ich bin nicht Polizist, nicht Philosoph, ich bin nicht cool oder schlau, ich bin Biologe." Und als solchen interessiert ihn eine Leiche nicht als Opfer in einem Fall, sondern erst einmal ganz neutral.
Es werden alle Informationen gesammelt, die das Forschungsobjekt preisgibt; dazu können Verfärbungen und Veränderungen der Konsistenz der Haut, das Verhältnis von intaktem zu verfaultem Gewebe, das Vorhandensein oder Fehlen von Haar sowie Fraßspuren von Tieren, ob groß oder ganz klein, und vieles mehr gehören. Um Zuordnen zu können, welche Eigenschaften des toten Körpers auf welche Ursachen zurückzuführen sind, ist es wichtig, Vergleichsdaten, die unter kontrollierten Bedingungen gewonnen wurden, heranziehen zu können.
Dafür sind Body Farmen da: Hier werden gespendete sterbliche Überreste unter den verschiedensten Bedingungen „gelagert", sodass der Einfluss von Feuchtigkeit, Liegezeit, Luftkontakt, Temperatur, Zugänglichkeit für Säugetiere und Insekten, etc. auf Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Alters, Körperfettanteils und so fort festgehalten werden kann. Die Dokumentation findet durch regelmäßige umfassende „Fotoshootings" mit den Versuchsobjekten statt. Ansehen dürfen sich das zum Teil auch Polizist*innen oder FBI-Mitglieder. Diese werden, nach dem Studium von Fachliteratur, im Praxisteil ihrer forensische Anthropologie-Seminare mit Haribo für das Interesse an Krabbeltieren belohnt und mit Aussagen wie „Wenn ihr die Hand in den Madenteppich steckt, passiert etwas Spannendes"* gelockt.
So werden die Berührungsängste mit den „Herrschern der Welt" (a.k.a. den Gliedertieren) gemindert — bis man irgendwann auf Benecke-Niveau ankommt und Maden zum Werbesymbol oder Fauchschaben zu seinen Haustieren macht. Problematisch für Body Farmen ist vor allem das zweifelhafte Renommee. Während Horrorfilm-Produktionen sich über Sponsoring durch Software-Giganten freuen dürfen, will sich mit der Erforschung realer Leichen keine Firma schmücken. So arbeiten Body Farmen im wesentlichen „no budget" und müssen von ihren Spendern sogar verlangen, eine Lebensversicherung auf die Body Farm abzuschließen, um sich deren Aufnahme leisten zu können. Es ist daher wenig verwunderlich, dass es bislang nur eine überdauernde Body Farm, nämlich in Knoxville, Tennessee, gibt.
Spannend bleibt, was aus den geplanten Einrich-tungen in Amsterdam und Frankfurt wird. Zumindest darf man in Europa vermutlich davon ausgehen, dass kein NATO-Stacheldraht auf den Mauern des Geländes nötig sein wird, um Kinder davon abzuhalten, Schädel für Halloween-Kostüme und -Dekoration auszubuddeln, wie es in den USA häufiger der Fall war. Neben Unmengen an Informationen zur Arbeit von Kriminalbiolog*innen erfährt man auch alles Mögliche und Unmögliche, mit dem man nicht gerechnet hätte.
Durch die Reibung zwischen den Tieren erreichen Madenteppiche Temperaturen, die bis zu zehn Grad höher als die der Umgebung sind.
Auf naturwissenschaftlichen Tagungen werden regelmäßig Vorträge zur aktuellen Karohemdmode gehalten; Beerdigungen sind stoffkreislauftechnisch besser als Einäscherungen, weil die Kalorien erhalten bleiben; auch Hühner bevorzugen Individuen mit symmetrischen Gesichtern; Badewanne + Säure ergibt keinen Leichenverschwindezauber, selbst in den USA kann man einem Kulturschock nicht entgehen und Theologie-Studierende, die (im Rahmen einer Studie) während einer Karfreitagsmesse LSD einnehmen, werden am Ende wahrscheinlicher Priester. Die halbstündige Pause während des etwa zweieinhalbstündigen Programms ermöglicht es, die Behandlung weiterer Themen im zweiten Veranstaltungsteil durch Niederschrift im Fragenbuch anzuregen, so man die Fragen nicht schon (willkommenerweise) während des ersten Teils in den Raum gerufen hat.
Wer am Merchandise-Stand ein Kinderbuch über die Verwesung der kleinen Maus, eine Zusammenstellung der Fälle, an denen Benecke beteiligt war, oder eines seiner vielen anderen Bücher erstanden hat, kann sich dieses (oder Haut) während der Pause signieren lassen und ein Foto mit Benecke ergattern; vorausgesetzt man kommt rechtzeitig vom Fauchschaben-Streichelzoo los oder ist nicht zu beschäftigt mit der eingespielten Musik von Rammstein, Welle:Erdball und Beneckes eigenen Musikprojekten.
Analog zum ersten Teil vergeht auch der zweite wie im Flug. Damit jeder, der in die unangenehme Situation kommt, außerhalb einer Body Farm einen toten Körper oder andere Spuren zu entdecken, seinen Beitrag zur Aufklärung des nächsten Mordes leisten kann, verteilt Benecke auf allen Veranstaltungen echte Tatortkärtchen. So gut Münzgeld zum Größenvergleich auf der Polizei übermittelten Bildern gemeint sind, so wenig Nutzen haben diese, aufgrund der großen Vielfalt an Münzen weltweit. Unerlässlich ist als Werkzeug außerdem eine gute Kamera (Handys verboten!).
Der wichtigste Appell betrifft jedoch das wissenschaftliche Arbeiten: Egal wie viele Jahre Erfahrung man in seinem Gebiet mitbringt, es können immer Sonderfälle auftreten oder Faktoren ungewöhnlich zusammenwirken. Es ist daher unerlässlich, immer wach dabei zu sein und sich nicht zu voreiligen Schlüssen verleiten zu lassen. Insbesondere im Zusammenhang von Verbrechensaufklärung können die Schlussfolgerungen über das Schicksal von Tatverdächtigen entscheiden; welches Urteil daraus resultiert, ist zwar abhängig von der nationalen Gesetzgebung, die wissenschaftliche Grundlage sollte allerdings so gesichert und allgemeingültig wie möglich sein.
„Ich suche nach Wahrheit, nicht nach Gerechtigkeit." Deshalb hinterfragt Benecke alles und jeden gnadenlos, angefangen mit sich selbst.
Mehr Informationen zu allen Wirkungsbereichen von Dr. Benecke findet ihr auf https://mark-benecke.squarespace.com/ .
(Mit vielem Dank an die Redaktion fĂĽr die Erlaubnis zur Verwendung.)
Lesetipps
* Body Farm - Wissenschaftliche Untersuchungen zu postmortalen Veränderungen (Thüringer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Fachbereich Polizei)