Quelle: Leipziger Volkszeitung (online), Zeitungs-Artikel vom 6. Juni 2025, Seite 18
Der Kriminologe und Szene-Star Mark Benecke spricht im Interview über die Philosophie der Gothic-Kultur und außergewöhnliche Erlebnisse beim WGT.
Von Christian Neffe
Leipzig. Er ist Kriminologe, Autor, Schauspieler, Tierrechtler – und Dauergast beim Wave-Gotik-Treffen (WGT). Dr. Mark Benecke sprach vor dem WGT mit der LVZ über die Philosophie und Anziehungskraft der Gothic-Szene und die Besonderheiten des Leipziger Festivals.
Wie sind Sie eigentlich zur schwarzen Szene gekommen?
Das passiert einfach. So wie man zum Bartträger wird, einfach weil er gewachsen ist.
Kam das über Ihren Beruf?
Nein, und ich kenne in diesem Bereich weltweit auch nur noch eine einzige andere Person, die Gothic ist. Das ist also durch eine sehr große Stichprobe widerlegt und hat damit überhaupt nichts zu tun. Es ist nicht wie im Kino, dass Gothics besonders gern mit Leichen arbeiten. Ich bin da ein Ausnahmefall.
Foto: Mark Benecke
Beruflich haben Sie mit dem Tod im ernsten Sinne zu tun, aber beim WGT wird der Tod ästhetisch zelebriert, quasi zu Entertainment gemacht. Wie passt das zusammen?
Mit Entertainment hat das nicht zu tun. Die Gothics sagen einfach: Ich kenne mich in der Dunkelheit, den Abstufungen von Grau aus und fühle mich da wohler als in der Welt der Farben, des Geschwätzes und der Lügen. Das wird sehr ernst genommen, und das ist wie in jeder Szene, jeder Gemeinschaft natürlich auch mit einem gewissen Maß an Unterhaltung verbunden. Aber der Tod selbst dient nicht als Entertainment-Gegenstand. Er ist eine Klammer, innerhalb derer sich alle Mitglieder wohlfühlen: das Düstere, das Langsame, das Finstere, die Moll-Akkorde. So wie jeder Mensch seine eigenen Vorlieben bei Musik oder Essen hat. Aber natürlich kann es da auch mal sehr lustig werden.
In einem Beitrag über die Anfänge des WGT schrieben Sie mal: „Alles war schwarz, alles war erlaubt, alle waren völlig gestört, und das Chaos war völlig unübersehbar.“ Ist diese Anarchie ein wenig verloren gegangen?
Überhaupt nicht. Bei Konzerten der Toten Hosen oder auch Udo Jürgens – wirklich wahr – ging es früher noch wirklich anarchisch zu, und da verliert sich das tatsächlich, je größer es wird und je älter die Leute werden. Aber nicht beim WGT. Wenn man nur von außen draufblickt, kann man diesen Eindruck bekommen. Wenn man aber tiefer drinsteckt, bekommt man diese Wildheit noch mit. Zumal sich die Szene mit neuen Stilen und Genres immer wieder selbst erneuert. Klar, ihr als Berichterstatter interessiert euch jedes Jahr für das Viktorianische Picknick, aber das ist nur ein Tausendstel von dem, was hier stattfindet. Ich habe beim WGT jedes einzelne Jahr so viel wilden Scheiß gesehen wie sonst nirgendwo auf dem Planeten. Es ist das einzige Festival – und ich gehe wirklich auf viele –, wo so viel irrer Wahnsinn und Unerwartetes passiert.
Welche Bedeutung hat Leipzig innerhalb der Szene?
Foto: Mayla Lüst
Das hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Es gibt zunehmend mehr kleine Festivals, die noch örtlicher und hochgradig spezialisiert sind. Die gehen gern mal nur einen Tag, und da spielen dann auch fünf oder sechs Bands. Aber Leipzig ist weltweit die einzige Anlaufstelle, auf die man sich immer verlassen kann. Andere Festivals kommen und gehen oder fallen wegen des Wetters ins Wasser. Aber das WGT ist so demokratisiert und findet an so vielen Orten statt, dass es einfach nicht schiefgehen kann. Wir waren zum Beispiel auch während Corona da und haben Party an der Agra gemacht, auch wenn keiner da war. Es gibt keine andere Stadt, die das leisten kann, allein weil überall sonst die Clubs zumachen. Und wo die Veranstalter auch halboffizielle Veranstaltungen zulassen. Dass ich bei einer Lesung zur Hälfte Menschen mit Bändchen und zur anderen Hälfte ohne reinlasse – sowas gibtʼs anderswo nicht.
Sie sind dieses Jahr bei der Eröffnung dabei und halten Vorträge über Kannibalismus. Aber wie sieht Ihr privates WGT-Programm aus?
Wir machen immer das, was gerade passiert. Wir haben einen – nicht ganz so – geheimen Vampirtreff Ines [Benecke, Ehefrau, Anm.d.Red] schaut schon seit Wochen ganz akribisch, auf welche Konzerte wir gehen können. Und zwischendurch trinken wir auch mal einfach einen Tee. Es läuft wohl auch „Phantom der Oper“, das schauen wir uns vielleicht an. Aber so wirklich „privat“ gibtʼs hier nicht – ich mache immer mal wieder Bandansagen oder unterstütze spontan auf der Bühne. In der Vergangenheit zum Beispiel, indem ich die Leute per Rohr mit Bier abfülle oder mich kurzfristig ans Keyboard setze. Oder eine Band verklickert mir kurz vorm Auftritt, dass sie sich gleich auf der Bühne prügeln werden. Natürlich nur gespielt.
Da erübrigt sich die Frage, ob Sie hier noch Dinge erleben, die Sie überraschen, wenn das quasi ständig passiert …
Das ist tatsächlich so, kann man auch in meinen WGT-Tagebüchern nachlesen. Man stolpert von einem Wahnsinn in den nächsten. Man muss aber offen dafür sein und nicht den alten Zeiten nachweinen. Sich nicht immer nur mit den gleichen Leuten treffen, sondern auch die neuen Sachen suchen und erleben.
Und diese Offenheit haben Sie sich bewahrt? Oder gibtʼs einige Entwicklungen, bei denen auch Sie sagen: „Versteh ich nicht“?
Ich verstehe überhaupt nichts, hab ich noch nie getan (lacht). Ich fühle mich hier einfach wohl, Ines plant ganz akribisch unser Programm, und der Rest schwappt einfach über uns rüber. Da lernt man dann auch neue Bands ganz automatisch kennen, etwa Lord of the Lost oder Rabengott, bei denen ich seit der ersten Sekunde dabei war. Letztlich bin ich einfach nur Fan.
Abschließend noch die Frage: Gibt es eigentlich irgendwas, das Sie eklig finden?
Da kann ich für mein ganzes Team sprechen: Wir verstehen einfach nicht, warum Menschen nicht die Wahrheit sagen. Immer dieses Rumlabern, Rumschleimen, Rumlügen … Das führt zu allem, was auf dieser Welt unangenehm ist, und ist super befremdlich. Aber so wirklich eklig … (denkt nach) Ich findʼs hochgradig unverständlich und unsozial, Tierprodukte zu verwenden. Denn das ist letztendlich eine Lüge: „Ich mag Tiere, weil ich meine Katze streichle.“ Ja, aber gleichzeitig Schnitzel und Joghurt essen – offensichtlich hasst du Tiere doch.
Nichts ekelt Sie im klassischen Sinne? Irgendwelche irrationalen Trigger, die eine körperliche Reaktion auslösen?
Ich findʼ das meiste eigentlich eher interessant. Aber die Spinne im Zimmer muss schon Ines raustragen.