Quelle: Vorworts-Entwurf für ein Fachbuch über Tattoos (2022)
Von Mark Benecke
Vieles auf den folgenden Seiten ist sachlicher als Tätowierte es wahrnehmen.
Für das Tätowiermagazin, jahrzehntelang und bis zu ihrem Tod im Jahr 2020 die weiseste Veröffentlichung im Fach, und für das Grassi-Museum für Völkerkunde in Leipzig habe ich jahrzehntelang Stimmen tätowierter Menschen gesammelt, aber von einem »sich seit Jahren ausbreitenden Boom« und »Tiegel der Kreativwirtschaft« würde ich nicht sprechen. Selbst Royals waren und sind schon ziemlich lange tätowiert darunter König Frederik IX, Zar Nikolaus II oder Edward VII. — ein Trend? ein Boom? — ebenso wie Heerschaaren von Menschen aller Bildungsstufen der letzten 150 Jahre. Woher ich das weiß? Es steht schon seit 1901 in der kriminalistischen Fachliteratur.
Wie kreativ die alten Herren — es waren zunächst nur Herren — Tätowierer waren, mag jede:r selbst entscheiden. Soeben ist ein megafettes Coffeetable-Buch des Kunstverlages Taschen erschienen, in dem Henk Schiffmacher über Jahrhunderte des Tätowierens berichtet. Er hat nicht nur ein ganzes Gebäude in sein ehemaliges Tätowiermuseum in Amsterdam verfrachtet — das habe ich mit eigenen Augen gesehen —, sondern tätowiert auch nach wie vor "Abziehbildchen", also Vorlagen von der Wand. Ich tragen von ihm beispielsweise ein sehr klassisches (ahem) Wand-Tattoo des Motives "Jail Bait" von seiner Wand — erweitert um das Initial meiner Freundin Lisa — sowie seit einigen Tagen drei Punkte im Gesicht, die er mir ohne Handschuhe, Maske oder Desinfektion mit den Worten "that is oldschool, har har har" verpasste. Akkurat und feinsinnig? Eher nicht. Stattdessen passt hier wie auch sonst nicht selten die zeitlose Beschreibung:
»Fragt man viel Tätowirte nach dem Warum, Wo, Wie ihrer Tätowierungen, so antworten sie mit einer sehr bezeichnenden Geberde, mit einem Achselzucken, einem Lächeln, als ob sie einem die Stelle aus der Strauss'schen Fledermaus vorsingen wollten: ›s'ist mal bei uns so Sitte‹, ›Chacun à son goût‹"« (Berger 1901)
Henk und meine Gang entschieden übrigens erst hinterher, was die drei Punkte überhaupt bedeuten könnten. Das lag auch daran, dass niemand wusste, was Henk überhaupt tätowieren würde. Unsere erste Entscheidung: "Kuchen, Kekse, Kaffee", die ich alle drei sehr liebe. Kurz darauf fiel dann die bislang endgültige Entscheidung: "Gesichtsblindheit". Sie verstehen? Drei Blinden-Punkte im Gesicht... gesichtsblind. Ziemlich lustig. Und ich bin es wirklich, worunter auch schon mehrere Autor:innen dieses Buches leiden mussten, als ich sie trotz jahrelangem Kontakt nicht erkannte. So oder so, die drei Punkte waren einfach Spaß an der Freude und am verrückten, schönen Moment. Mit Herbert Hoffmann aus St. Pauli, gleichsam Henks Vorgänger, lief es ähnlich. Er war schon so zittrig, dass er seinen Vornamen über und seinen Nachnamen unter die Hilfslinie auf meinen Arm tätowierte. Na und?
Wozu schildere ich fröhlichen Wildwuchs, wo das Tätowieren doch eine erkennbar erblühte und aufgefächterte Kunstform und ein oft mühe- und liebevoll betriebenes Kunsthandwerk ist, das nicht mehr von Geheimnissen des Nadellötens und Farbenmischens lebt und wo es mittlerweile Studios gibt, die vor Sauberkeit blitzen? Und was ist mit den traurigen, lustigen, berührenden, fantastischen, tiefgründigen und spannend bedeutungsschweren Sinngehalten vieler Tattoos?
Gibt es. Reichlich und zum Glück. Doch der Weg vom Knöcheldelfin (1994) über das Steißbein-Tribal (1999), die Rockeballa-Kirschen (2003), die übrigens zuvor eine ganz andere Bedeutung hatten, Hello Kitty (2005), Cupcakes (2006), Eulen (2009), Füchse (2014), Krakel-Unterschriften oder gekritzelte Tiere von mir (seit 2015 an mittlerweile Hunderten Menschen) oder Mini-Tattoos seitlich des Auges (sehr lässig: der Regenschirm; seit 2018) ist nicht nur von tiefen Gefühlen, Zweifeln, Vorschriften und europäischen Regeln, sondern vor allem vom schon erwähnten Spaß und Liebe zur Freiheit geprägt.
Werten sich Tätowierte mit ihren Hautmalereien auf? Vielleicht — aber nicht vor anderen. Sie machen das sichtbar, was sie in sich tragen: Selbstermächtigung.
Auch umgekehrt passt es. Das besoffenste Quatsch-Tattoo kann für die Trägerin oder den Träger Tage oder Jahre später eine wertvolle Erinnerung an einen besonderen Tag, eine leidvolle Zeit oder daran, dass mein Körper mir gehört, erinnern. Alle Bedeutungen können sich dabei wandeln. Was Nelly, Corinna und mein Leuchtturm-Engel Ines zum Zeitpunkt des Stechens für mich bedeuteten, kann heute etwas größeres, kleineres, schöneres, traurigeres oder — das habe ich auch schon oft gehört und erlebt — kaum noch etwas bedeuten. Nicht selten vergessen so genannte "Vieltätowierte", besonders bei in Zeiten und Räumen zusammen gesammelten Werken, auch die Bedeutung und Gelegenheit des Werkes. Wann habe ich nochmal dieses chinesische Girlgroup getroffen, die sich wenige später aufgelöst hat? Tja. Jedenfalls habe ich sie getroffen. Und das ist die eigentliche Geschichte.
Was eine Tätowierung immer ist: Der Wille, für etwas gerade zu stehen. Denn ein Tattoo ist hoffentlich für immer. Wer es als Modeschmuck tragen und später ablegen möchte, bitteschön. Dann aber nicht herumheulen, wenn es erstens schrottig geworden ist und zweitens beim Lasern sau weh tut und mehr kostet als zehn Tattoos zusammen.
Dass das vorliegende, wissenschaftliche Buch Tipps beinhaltet, wie mensch gute Tätowierer:innen findet, wie und warum Farben und Sauberkeit überhaupt funktionieren und wie sich Tätowierungen entfernen lassen (ich bin dagegen, aber sowohl mit Farbenherstellern als auch Tattoo-Entfernern:innen befreundet), ist spitze. Wer nach diesen Kapiteln geschrieben von erfahrenen Expert:innen, nicht bescheid weiß, der oder dem ist nicht mehr zu helfen.
Viel Freude bei Lesen und allzeit eine Handbreit Tusche unter Kiel!
Solothurn, Sept. 2021
Mark Benecke