Quelle: Express (Düsseldorf), 28. Okt. 2019, S. 21
Von Nathalie Riahi
Düsseldorf — Dr. Mark Benecke ist Deutschlands bekanntester Kriminalbiologe, hat Spitznamen wie „Dr. Made“ oder „Doktor Schmeißfliege“. Der Forensiker ist aber viel mehr als ein Spurensucher. Der Tattoo-Fan ist wohl der einzige Wissenschaftler, der für seine anschaulichen Vorträge wie ein Popstar gefeiert wird.
In Düsseldorf hielt er jetzt eine Lesung aus seinem neuen Buch „Mein Leben nach dem Tod – Wie alles begann“ (Bastei Lübbe). Seine Autobiografie. EXPRESS traf ihn zu einem spannenden Gespräch.
Sie kommen aus einem behüteten Elternhaus. Aus der Bravo etwa wurden die Dr. Sommer-Seiten und die Love-Storys rausgetrennt... Wie hat Ihre Mutter reagiert, als Sie ihr sagten: „Mama, ich kümmere mich jetzt vorwiegend um Leichen“?
Mutti fand das super interessant. Sie ist auch mal mitgekommen ins Labor und hat es sich angesehen. Sie ist halt neugierig.
Erfahren diejenigen, die regelmäßig in Ihren Vorträgen sind, nun durch das Buch ganz viel Neues über Sie?
Ja, denn in den Vorträgen geht es ja um Sachthemen. Da geht es dann um Blutspuren oder Bakterien auf Leichen. Die Leute können aber ins Fragebuch was reinschreiben. Dann beantworte ich auch Privates. Es soll ja um einen vernünftigen Inhalt gehen und nicht um meine Lebensgeschichte.
Verraten Sie uns ein paar Sachthemen bezogene Beispielfragen?
Frage: Warum stirbt man am Kreuz schneller, wenn man Wasser zu trinken bekommt? Antwort: Weil man dann einen Kreislaufzusammenbruch kriegt. Frage: Gibt es einen Unterschied zwischen einem Toten und einer Leiche? Antwort: Nein. Jeder frische Tote ist eine Leiche und umgekehrt.
Frage: Was ist schlimmer: Bei Bewusstsein zu verbrennen oder zu ertrinken? Antwort: Ist beides gleich Scheiße. Auf dem Scheiterhaufen sind die Leute vorher immer ohnmächtig geworden und erstickt durch die Brandgase. Aber auch beim Ertrinken kann man vorher ohnmächtig werden.
Sie verraten in Ihrem Buch, wovor Sie sich persönlich ekeln. Mit Leichen hat es nichts zu tun. Aber Spinnen...
Spinnen nicht mehr! Dank Konfrontationstherapie. Vor vier Wochen war ich in Chemnitz im Naturkundemuseum. Da sind wir nachts mit dem Museumsdirektor durch das Museum. Besser geht's nicht! In die Abteilung für Gliedertiere. Und da gab es auch eine freilebende Spinne. Eine Seidenspinne.
In Chemnitz haben sie einen Rahmen für die Spinne gebaut. Aber sie setzt sich immer neben den Rahmen und baut immer ihr Netz daneben. Was für ein Statement! (lacht) Nach dem Motto: Ihr könnt mich mal. Wenn ich schon in dem blöden Insektarium hängen muss... Spinnen sind keine Insekten.
Und da gibt es noch eine Spinne. Die Sissi, eine Vogelspinne. Die darf man streicheln, was ich dann auch getan habe (sehen Sie hier das entsprechende Video dazu: Mark Benecke – Nachts im Museum). Und seitdem habe ich sie lieb.
Auch zuhause?
Naja, da tragen wir sie raus. Was sonst meine Frau immer macht. Aber neulich musste ich sie raustragen, weil sie die Spinne gruselig fand.
Was finden Sie noch ekelig?
Haare im Abfluss. Alle Fleischprodukte finde ich auch ekelig. Ich habe ja früher in Irland mit Tintenfischen gearbeitet. Und unser alter Prof, der an der Kölner Uni war, der war Düsseldorfer. Und der sagte dem Fischer, der nie was anderes gemacht hatte – er kennt nur sein Boot und seine Hütte – „Du musst mal nach Düsseldorf kommen. Das ist die schönste Stadt der Welt." Dann hat er ihn tatsächlich hierhin gebracht. Da ist er ins Carsch-Haus und da gab es eine Fischabteilung mit Fisch auf Eis. Der Fischer fand es superekelhaft, weil es ja Mega-Leichen sind.
Lebende Fische riechen ja nicht nach Fisch. Der riecht nur, weil er alt ist: Alte Leichen. Bakterien lassen ihn riechen. Das ist beim Metzger ähnlich.
Und beim Fleisch ist es so: Alle wollen Klima retten und labern rum, aber die meisten essen Fleisch, was der Hauptfaktor ist für den CO2-Ausstoß, Wasser- und Landverbrauch ist. Das ist unlogisch. Und riecht halt auch nicht gut. Wenn ich eine Brandleiche vor mir habe, riecht das genauso wie ein gebratenes Fleischstück.
Haben auch die Tintenfische in Irland, die – wie Sie in Ihrem Buch schreiben – sehr zutraulich waren, dazu beigetragen, dass Sie heute vegan leben?
Ja. Deswegen sind Tintenfische auch extra geschützt, sie haben eine sehr ähnliche Nervenstruktur und ein sehr ähnliches Gehirn wie Hunde, Katzen, Schweine, Menschen. Die sind intelligent und ähnlich sogar im Spiel: Denen ist halt auch langweilig, die bauen Scheiße, wenn sie Aufmerksamkeit wollen, alles so Dinge, die man sonst nur den Haustieren zutraut.
Damals war das noch schick: Da gab es in italienischen und spanischen Restaurants immer diese frittierten Calamari. Das war für Kinder der Hit. Die habe ich natürlich überhaupt nicht mehr angerührt. Da bin ich dann zunächst Vegetarier geworden. Ich wusste damals gar nicht, dass es auch Veganer gibt.
Gibt es denn irgendetwas an Leichen, was Sie doch anekelt?
Nein, an Leichen nicht. Die sind ja etwas Gutes. Das muss ja alles irgendwie wieder in den Kreislauf der Natur zurück. Ich find’s eher beknackt, die zu verbrennen. Denn da hat man einen riesigen CO2-Ausstoß. Das ist bekloppt. Es gibt so ein Verfahren, das ist Gefriertrocknen. Das läuft auch Halloween auf ARTE. (Die nächste Ausstrahlung im Fernsehen ist am 31. Oktober um 1 Uhr → ARTE-Mediathek → „Ruhe sanft".)
Ich bin dabei mit meinem Team in Bukarest in der Rechtsmedizin. Die Kollegin, die Gefriertrocknen von Leichen macht, ist auch dabei.
Als Sie zum ersten Mal als Spurenkundler eine Leiche untersucht haben, gab es irgendetwas, was Sie überrascht hat? Ein bestimmter Geruch oder ein Geräusch der Leiche?
Gänsehaut ist ungewöhnlich. Das sieht man nur sehr selten. Ich fand das interessant. Überrascht war ich nur über die Präparatoren, die sagten: Ach, ist doch egal. Denn die Angehörigen kommen natürlich auch und fragen, wenn sie die Aufbahrung beim Bestatter mitkriegen: Oh mein Gott, was war denn da los?
Oder wenn eine Träne bei einer Leiche rausläuft. Entweder, wenn das Auge zerfällt und sie die Augen vorher zugeklebt haben. Oder wenn man etwas injiziert hat, Formalin zum Beispiel, und der Druck zu stark ist, so dass noch die besagte Träne rausläuft. Die Leute, die täglich damit arbeiten, sagen dann: Ist doch egal. Aber man selbst sagt: Ja, aber hier stehen die Angehörigen und denken, dass der noch gelebt hat. Das lässt die nie wieder los. Insofern ist es überhaupt nicht egal. Oder scheinbar gewachsene Fingernägel, was immer wieder erzählt wird.
Gibt es das gar nicht?
Tot ist tot. Da kann nichts mehr wachsen. Die Haut trocknet ein. Aber viel häufiger schneiden sich die Leute die Fingernägel nicht, bevor sie sterben. Wenn man im Hospiz liegt und weiß, man hat nur noch ein paar Tage zu leben, schneidet man sich die Fingernägel vielleicht nicht mehr. Man macht vielleicht anderes, was man schon immer machen wollte.
Oder die Wohnungsleichen von Verwahrlosten, die Unsichtbaren, die keine Freunde mehr hatten. Die schneiden sich oft sowieso nicht die Nägel. Jeder zweite Mann schneidet sich eh nicht die Fußnägel. Da muss gar keine Verwahrlosung vorliegen. Das weiß aber keiner. Und dann kommen die Angehörigen...
Aber das mit der Gänsehaut ist faszinierend. Wie kann das passieren?
Das weiß niemand. Ich habe mal rumgefragt. Wir wissen, dass die Personen tot sind. Sie haben keinen Kreislauf mehr. Man sieht es an den Totenflecken, das Blut fließt Richtung Schwerkraft. Wenn man sie dann aus der Kühlkammer zieht, denke ich persönlich, dass die Haaraufstellmuskulatur sich zuvor reflektorisch zusammen gezogen hat und dann hat man da vielleicht Leichenstarre drin.
Ist die Gänsehaut temporär?
Ja. Man hat die Leichenstarre und die kann sich dann lösen, je nachdem wie warm oder kalt es ist. Das Problem ist: Es ist so selten. Und auch da ist es wieder: Wenn alle sagen „Ist doch egal“ oder „Kann doch nicht sein“, muss man fragen: Wie sehr kümmerst du dich um die Angehörigen?
Riecht Hirnflüssigkeit?
Kommt drauf an, ob sie verfault ist oder nicht. Also kleine Mengen riecht man jetzt nicht. Nach einem Kopfschuss, wenn da ein bisschen Gewebe an der Wand ist, eher nicht. Wenn Blut rausläuft, riecht man das Blut. Aber das riecht auch nicht jeder sofort. Allerdings bluten Kopfschüsse nie sehr stark.
Sind Gerüche von Leichen wichtig für Ihre Arbeit?
Ja total. Das ist eine Spur. Erstmal kann man durch Gerüche sagen: Da liegt überhaupt eine Leiche beziehungsweise sie lag dort. Hunde riechen das übrigens auch nicht immer. Und dann kann man zweitens sagen, welches Fäulnisstadium es ist. Nicht unbedingt, wie lange die Leiche tot ist. Aber es kann für die Lagerungsbedingungen spannend sein.
Beispiel: Es ist trocken im Wald, aber die Leiche riecht feucht. Da muss man sich fragen: Wurde etwas über die gegossen? Oder lag sie zwischendurch in einem Plastiksack, in dem nichts verdunsten kann, und wurde gerade erst in den Wald gebracht?
Insofern sind Gerüche eine wichtige Spur. Die Insekten riechen das auch. Wenn man zum Beispiel käsig-breiig zerlaufene Leichen hat, gehen Käsefliegen dran. Oder bei dem frühen Leichengeruch, den Geruch kennt jeder aus der Biotonne, da gehen halt die grünen und die blauen Schmeißfliegen hin. Ich bin ein großer Fäulnisgeruchsfan! Da habe ich auch einen eigenen Vortrag drüber.
Sie haben ja auch Insekten zu Hause.
Ja, Fauchschaben. Die heißen so, weil sie fauchen können. Zischen - genauer gesagt.
Wie viele haben Sie?
Meine Frau macht einmal im Jahr eine Schabenzählung (lacht). 150 oder 200 werden es schon sein.
Womit füttert man sie?
Karottenschalen oder ein Stück altes Brot, Früchte, Gebüsch kriegen sie ganz viel. Manchmal nehmen sie es auch nicht. Das sind schon Diven.
Helfen Sie auch bei Ihrer Arbeit?
Nein, die unterhalten mich nur. Oder vielmehr: Ich unterhalte sie.
Echte Fründe also?
Ja! Echte Fründe. Das ist wahrer, als man meint. Die lernen natürlich von uns was. Jeder, den man fragen würde, würde sagen, dass sie gar nicht das Nervensystem dafür haben. Aber die merken: Wie du an ihrem Terrarium entlang läufst, ob du das Licht anmachst, weil sie etwas zu fressen kriegen oder nur so. Dementsprechend reagieren sie. Und umgekehrt lernen wir von ihnen halt auch. Zum Beispiel, dass sie Sozialverhalten haben.
Denken Sie jeden Tag an Luis Trenker, wenn Sie sich Ihre Schuhe zubinden? Zur Erklärung: Mark Benecke beschreibt in seinem Buch, dass er als Kind zur Kur in Berchtesgaden war und die Gruppe dort ein alter Mann besuchte, der den Kindern einen speziellen Knoten beibrachte, den er heute noch beim Schuhezubinden nutzt... Es war Bergsteiger-Legende Luis Trenker.
(lacht) Nein, ich denke nicht jeden Tag daran. Aber ich danke ihm für die schöne Erkenntnis. Wir Kinder haben erst hinterher mitbekommen, wer es war. Wir wussten nur: Das ist ein alter, berühmter Mann.
Wie gefällt Ihnen das Düsseldorfer Publikum?
Das Beste an den Düsseldorferinnen und Düsseldorfern ist, dass bei ihnen die Köln-Düsseldorfer Witze, die ich wegen der Schlacht von Worringen mache, gar nicht funktionieren, weil sie das in Düsseldorf gar nicht ernst nehmen. Während die Kölner das todernst nehmen. Das ist großartig! Düsseldorfer sind wirklich aufrichtige Rheinländer. Auch, wenn sie es selber nicht immer merken.
Was mögen Sie noch an Düsseldorf?
Es gibt in Düsseldorf eines der bescheuertsten Restaurants auf dem Planeten Erde: Space Burger. Irgendjemand muss da mal ziemlich viele halluzinogene Substanzen genommen haben – man muss sich mal die Speisekarte angucken! Ich liebe diesen Laden.
Jedes Mal, wenn ich in Düsseldorf bin, gehe ich da rein, weil die auch vegane Sachen haben. Die haben so Burger mit verschiedenen Texturen, Geschmäckern und Farben, was bei Leuten, die psychodelisch drauf sind, super ankommt. Sowas habe ich auf diesem Planeten noch nie gesehen! Ich habe in New York gelebt, in Manila gearbeitet... Ich habe viel gesehen, aber so einen Laden gibt es nur in Düsseldorf!
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