So blaue Augen

Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr. 58/2003, S. V2/9, 11. März 2003

Die Niederlande erlauben eine neue Form von Verbrecherjagd mit DNS-Spuren, die in Deutschland indiskutabel ist.
Von Mark Benecke

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Anfang April wird die niederländische Königin das weltweit erste Gesetz unterschreiben, das es erlaubt, sich anhand von DNS-Spuren am Tatort ein genaueres Bild von Verbrechern zu machen. Dann dürfen Hollands Kriminalisten nicht nur den genetische Fingerabdruck aus Haaren, Blut oder Sperma gewinnen und ihn mit der DNS potenzieller Täter vergleichen. Sie dürfen auch in den Genen lesen und daraus auf Körpermerkmale schließen: auf rote Haare etwa, blaue Augen oder auch slawische Wangenknochen - sobald dies technisch möglich ist.

Das neue Gesetz könne bei der Aufklärung von Verbrechen helfen, freut sich Kees van der Beek vom Niederländischen Forensischen Institut. Er merkt zwar an, dass die Anwendung der Technologie auch reglementiert werden müsse, doch generell verspricht er sich viel von ihr.

So pragmatisch wird die Sache in Deutschland nicht gesehen. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter in Nordrhein-Westfalen wagt nicht einmal ein Statement, weil dieses "falsch interpretiert werden könnte". Zu stark seien noch die Vorbehalte gegen die Nutzung des klassischen genetischen Fingerabdrucks, der hier zu Lande erst nach heftigen Auseinandersetzungen eingeführt werden konnte. Dabei dient die herkömmliche Variante lediglich dem Tätervergleich und ermöglicht - im Gegensatz zu der neuen Technik - keinerlei Aussage über Körper oder Geist.

Die Vorsicht der Kriminalbeamten ist nicht unbegründet. Tatsächlich löst schon die bloße Bemerkung, dass DNS vom Tatort viele Eigenschaften des Täters offenbaren könnte, in Deutschland großen Widerstand aus. So erwähnte Bernd Brinkmann, seinerzeit Präsident der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin und bis heute Professor an der Universität Münster, im August 2001 bei einer Tagung forensischer Genetiker die Möglichkeit, in Zukunft Phantombilder von Sträftätern anhand genetischer Fingerabdrücke zu erstellen. Den Teilnehmern stand vor Bestürzung der Mund offen. Denn in Deutschland hat man Angst, dass die Polizei mit Hilfe der Gene zu tief ins Privatleben schaut. Schließlich enthalten die Erbanlagen auch zahlreiche Informationen, die Kriminalbeamte nicht unbedingt etwas angehen - über Krankheiten zum Beispiel.

Es bestehe auch die Gefahr, dass man eines Tages noch viel mehr aus den Genen lesen könne, gibt Peter Büttgen, Sprecher des Bundesbeauftragten für den Datenschutz, zu bedenken: das Aggressionspotenzial etwa oder auch den Hang zum Alkoholmissbrauch. "Man kann so viel mit den genetischen Spuren machen und das wäre so ein starker Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht, dass wir den Einsatz solcher DNS-Tests zur Verbrecherjagd lieber von vornherein beschränken wollen", sagt Büttgen.

Was für ein Tabuthema die Analyse von Eigenschaften aus der DNS (genauer gesagt aus ihren "kodierenden Bereichen") in Deutschland ist, zeigte auch eine Umfrage der Zeitschrift der European Molecular Biology Organization im Januar 2002, bei einem Kongress in Bonn. Sie verteilte dort einen Fragebogen, in dem deutschsprachige DNS-Typisierer gefragt wurden, welche Tests sie jenseits des herkömmlichen genetischen Fingerabdrucks für akzeptabel hielten. Ein älterer Professor stand wütend auf und verbot den verdutzten Teilnehmern, die Nutzung, der kodierenden DNS überhaupt nur zu diskutieren (1).

"Dabei ist die Darstellung äußerlich sichtbarer Merkmale nur eine logische und sehr nützliche Verbesserung des kriminaltechnischen Werkzeugkastens" , meint Kees van der Beek. "In einem demokratischen Land sollte das niemandem Angst machen, wenn der Gebrauch angemessen reglementiert ist." Entsprechende Vorsichtsmaßnahmen habe das niederländische Parlament eingeleitet.

Ertappt beim Krebstest

So dürfen in Holland nur solche Eigenschaften aus Blut, Sperma oder anderen biologischen Spuren ermittelt werden, die auch für die Strafverfolgung sinnvoll und äußerlich sichtbar sind. Zudem müssen die Merkmale von der Geburt des Trägers an vorhanden sein. Diese drei Voraussetzungen aber erfüllen nur wenige Eigenschaften, beispielsweise die Augen- oder Haarfarbe. Krankheiten oder - was Zukunftsmusik und vielleicht auch niemals möglich ist - geistige Eigenschaften dürfen also nicht aus den Genen gelesen werden.

Kritiker aber befürchten, dass Kriminalisten bald weitergehende Ansprüche stellen könnten. Denn selbstverständlich hilft es bei der Strafverfolgung, wenn man etwas über die Krankheiten des Täters weiß. So wird eine Trisomie 21- die zum Down-Syndrom führt - in Holland derzeit als nicht bedeutsam für die Verbrecherjagd erachtet. Aber zweifelsohne würde es den möglichen Täterkreis erheblich einschränken, wenn man wüsste, dass der Gesuchte unter diesem genetischen Defekt leidet. Selbst das Wissen um ein erhöhtes Darmkrebsrisiko könnte der Polizei den Täter womöglich eines Tages in die Arme treiben.

13 Jahre zu spät

In nächster Zukunft wird das niederländische Gesetz allerdings kaum Auswirkungen haben. Weil noch zu wenig über das Erbgut des Menschen bekannt ist, lassen sich bisher nur sehr wenige Merkmale daraus ablesen. Umstritten ist ohnehin, ob es jemals möglich sein wird, ein mehr oder weniger genaues Phantombild mit Hilfe der Gene zu erstellen. Das Aussehen eines Menschen werde auch stark von Umwelteinflüssen geprägt, gibt Bernd Brinkmann zu bedenken.

Klar und zweifelsfrei geben die Gene schon heute das Geschlecht ihres Besitzers preis. Und auch seine Ethnie lässt sich bereits mit einiger Sicherheit aus den Genen herauslesen. Allerdings wissen Genetiker keineswegs, welche Erbanlagen im einzelnen die ethnische Zugehörigkeit einer Person bestimmen. Vergleiche von DNS-Spuren aus aller Welt zeigen aber; welche Abschnitte etwa in Asien, Afrika oder Westeuropa besonders häufig sind. Entsprechende Funde in einer Täter-DNS deuten also auf asiatische Gesichtszüge - die allerdings auch einer in Manhattan geborenen Koreanerin gehören können, die gerade mit Schweizer Pass auf einem Raubzug durch Südafrika ist.

Selbst mit so relativ einfachen Merkmalen wie Haar- und Hautfarbe haben die Forensiker indes noch Probleme. Denn auch solche Eigenschaften werden von mehreren Abschnitten der Erbsubstanz verschlüsselt. Deshalb könnte es noch einige Zeit dauern, bis schwarze, aschblonde und braune Haare verlässlich aus einer DNS-Spur abgeleitet werden.. Lediglich mit den Rothaarigen scheint es die Wissenschaft leicht zu haben. So ist ein Test für den "Melanocortin-I-Rezeptor" bereits marktreif, der die Anlage zu roten Haaren immerhin mit 80-prozentiger Sicherheit erkennt.

Im September 2002 hat die kalifornische Firma DNAPrint Genomics zudem verkündet, die Augenfarbe anhand von DNS-Proben fast zweifelsfrei bestimmen zu können. Dazu benutzt sie eine neue Klasse forensisch interessanter Erbgut-Bereiche: die so genannten SNPs (single nucleotide polymorphisms). Das sind punktuelle Unterschiede im Erbgut verschiedener Individuen.

Trotz der bisher mageren Einsatzmöglichkeiten ist der mögliche künftige Nutzen der kodierenden DNS für das niederländische Parlament Anreiz genug, ihre Anwendung zu erlauben und gesetzlich zu reglementieren. In Großbritannien arbeitet der Forensic Science Service sogar schon seit einigen Jahren mit der Technik - ohne eine gesetzliche Grundlage dafür geschaffen zu haben.

Deutschland hingegen wird die Diskussion wohl weiter meiden. Ein Gesetzentwurf, den die rot-grüne Koalition im Rahmen der Novellierung des Sexualstrafrechts am 28. Januar vorgelegt hat, sieht zwar vor, künftig das Geschlecht aus den Genen zu lesen. Informationen aus der kodierenden DNS sollen aber ungenutzt bleiben. "Das wäre ein zu großer Eingriff in die Intimsphäre und damit in die Menschenwürde", sagt Christiane Wirtz, Sprecherin im Bundesjustizministerium.

Schon bei der Einführung der klassischen Fingerabdrücke aus Tinte war Deutschland sehr vorsichtig. Erst mit 13-jähriger Verspätung führte es diese Technik vor hundert Jahren, im April 1903, ein. Als weltweit letztes Land.

(1) Mark Benecke: Coding or non‐coding, that is the question → EMBO Reports, Bd. 3, S. 498 ff., 2002
 


Mit großem Dank an die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.


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