Musik & Psyche đŸŽ¶

Sandra Strauß und Schwarwel (Hrsg.) „#nichtgesellschaftsfĂ€hig: Musik, Psyche, IdentitĂ€t und Gesellschaft“

716 Seiten, mit ĂŒber 60 Beteiligten und Hunderten von Abbildungen, Ami-Format, Softcover mit Softfeel-Umschlag, vollfarbig. GlĂŒcklicher Montag, erschenen am 10. Okt. 2024, VK: 34,90 EUR, ISBN: 978-3-948518-24-0

„The music is all around us, all you have to do is listen.“ Schwarwel und Sandra Strauß haben genau zugehört. Sie lassen verschiedenste Menschen darĂŒber zu Wort kommen, was Musik mit ihnen macht und was sie mit Musik machen. Die zerstörerischen Facetten werden dabei nicht ausgeblendet, sondern ganz bewusst ausgeleuchtet. Denn die Reihe #nichtgesellschaftsfĂ€hig stellt Psyche, Emotionen und psychische Belastungen gezielt ins Zentrum des Interesses. Das Buch verknĂŒpft die Themenfelder „Musik, Psyche, IdentitĂ€t und Gesellschaft“ und lĂ€dt zu einer sehr persönlichen Leseerfahrung ein.

Musik ist ein direktes Medium, das den Menschen und seine GefĂŒhlswelt unmittelbar anspricht. Sie kann Erinnerungen wecken und Halt geben, trösten und wĂŒtend machen, Zugehörigkeit vermitteln, bewegen und lĂ€hmen, betören und zerstören. Wohl keine andere Kunstform versteht es, so unmittelbar die Palette aller GefĂŒhle zu bespielen, alle emotionalen Register zu ziehen. Sie hat einen besonderen Einfluss nicht nur auf die Zuhörenden, sondern auch auf die Musiker:innen und eine ganze davon abhĂ€ngige Branche. Denn Musik ist auch ein Big Business. Von all dem handelt das Buch.

#nichtgesellschaftsfĂ€hig: Die VorgĂ€nger-BĂ€nde thematisierten den Alltag mit psychischen Belastungen (712 Seiten) und die Last durch Tod, Verlust und Trauer (652 Seiten). Mit dem vorliegenden dritten Band fanden die Herausgeber:innen Sandra Strauß und Schwarwel ein neues Prisma, um den Seelendingen nachzuspĂŒren. Der Fokus liegt auf den vielfĂ€ltigen Wirkungen von Musik und ihren Auswirkungen auf die menschliche Existenz. Musik bringt Menschen in Schwingungen, berĂŒhrt sie auf vielen Ebenen, schafft Frohsinn und Tiefgang. Sie bietet Ă€ußere Formen, um mit dem Inneren umzugehen. Mehr als 60 Beteiligte eröffnen in GesprĂ€chen und persönlichen BeitrĂ€gen ihre Sichtweise auf das Thema. Schwarwels Illustrationen und der bunte Almanach-Stil ermöglichen einen lockeren Einstieg. Die besondere QualitĂ€t von #nichtgesellschaftsfĂ€hig ist die furchtlose AnnĂ€herung an das Thema, das den Herausgeber:innen und Autor:innen gemeinsam ist. Ihre Gedanken lassen tief blicken, auch in AbgrĂŒnde und Krisen sowie auf ihre individuellen Wege, damit umzugehen.

PortrĂ€ts erinnern an den außergewöhnlichen Werdegang von Musikerinnen wie SinĂ©ad O’Connor, Amanda Palmer, Amy Winehouse und Siouxsie Sioux. Im Interview erzĂ€hlt Luci van Org ĂŒber weibliche Selbstbestimmung und Torsun spricht im Interview mit Linus Volkmann ĂŒber den nahenden Tod. Andere BeitrĂ€ge behandeln das Ausgebranntsein in der Musikszene und das Brennen fĂŒr Musik. Es geht um Rausch beim Tanzen und durch Drogen, des Spiel mit faschistischer Ästhetik, SĂŒchte, Ess- und Körperstörungen, Borderline, Exzesse und Depressionen. Wie hat Bruce Springsteen einem Autor als StĂŒtze bei persönlicher Trauerarbeit geholfen? Warum ist Rockmusik weiterhin ein mĂ€nnlich besetztes Testostoron-Thema? Was kann gefĂ€hrlich am Geniekult sein? Wie lebt es sich on the road? Und wie meistert man einen Konzertbesuch mit Behinderung?

Musiker:innen, Bands, Journalist:innen, Psycholog:innen, Tourmanager:innen und Veranstalter, Menschen aus der Comic-, Film-, Kunst- und Kulturbranche, Moderatoren, DJs, Musikliebhaber:innen, Fans und Fachmenschen geben Antworten. AusfĂŒhrlich befragen ließen sich unter anderem Moby, Shirley Manson, Markus Kavka, Diane Weigmann und Sebastian Krumbiegel, Jörg Buttgereit und Meta Bene, ZSK und Think about Mutation. Wie die Welt der Filmproduzenten funktioniert, erklĂ€rt Thore Vollert. Ein AprĂšs-Ski-DJ verrĂ€t, was nach der Piste kommt. Sie alle geben mit persönlichen Playlists zusĂ€tzlich Einblicke in die Soundtracks ihres Lebens – ein Fundus fĂŒr Wieder- und Neuentdeckungen. Pop- und Kulturjournalist:innen liefern HintergrĂŒnde zu #metoo in der Musikindustrie, zu musikalischem Aktivismus und rechtem Rock, Frauenbildern in Songtexten und psychologischen Tiefen. Es geht um prekĂ€re Jobs und Formen der SelbstermĂ€chtigung, Awareness, Traumata und Musik als therapeutisches Mittel.

Beteiligte – in alphabetischer Reihenfolge: Alex Pagel (Kreatives Sachsen, (Pop Up Leipzig, DJ), Anne Martin(Musikwissenschaftlerin, Jazz-SĂ€ngerin), Armin Rösl (Deutsche Depressionsliga e.V.), Barbara Vorsamer (SĂŒddeutsche Zeitung), Caroline Kraft (Autorin und Podcasterin, Spiegel-Bestseller „endlich. Über Trauer reden“), Charly Nagele (Musiker, DJ), Christian KĂŒmmel, Christina Mohr (Journalistin, u. a. Musikexpress, Missy Magazin, Frankfurter Rundschau), Diana Ringelsiep (Sammelband „Punk as F*ck – Die Szene aus FLINTA-Perspektive“), Diane Weigmann(Lemonbabies, Songwriterin), Eric Wrede (vorher: Musikmanager, jetzt: Bestatter bei lebensnah Bestattungen), Flavia Scuderi (Comic- und Animationszeichnerin, Illustratorin, u. a. Disney), Frank Pasic (FUNUS Stiftung), Franziska Lauter (internationaler Hit „Hypnotized“, Psychologin, MitbegrĂŒnderin MiM-Verband (Mental Health in Music)), Franziska Reif, Friederike Merz (Vokalistin, Songwriter), Gabor Schneider, Gary Schmalzl (Gitarrist), Prof. Dr. Georg Schomerus (Direktor der Klinik und Poliklinik fĂŒr Psychiatrie und Psychotherapie, Leipzig), GLÜXKINDER, Ines Fischer und Dr. Mark Benecke, Itje Kleinert, Jan Schwarzkamp (VISIONS), Jennifer Sonntag (Diplom-SozialpĂ€dagogin, Fachjournalistin, Buchautorin), Jörn Drewes (Ilses Erika), Josephine Maria Bayer, Jörg Buttgereit (Underground-Ikone, Horrorfilme „Nekromantik“, „Der Todesking“ und „Schramm“), Josephine Maria Bayer (deutsch-amerikanische Musikredakteurin), Joshi von ZSK, Juliane Streich (Journalistin (u. a. MDR Kultur und ttt), Herausgeberin der „These girls“-Buchreihe), Karina Weisheit und Marcel Magister (Kulturfabrik Werk 2 Leipzig), Karsten Kriesel (Journalist, gestorben am 01.03.2024), Katja Röckel (Mrs. Pepstein), Kay Setzepfand (Think about Mutation), Lars Tunçay (Journalist, MDR), Linus Volkmann (Buchautor, Musikjournalist), Luci van Org (Lucilectric, mehrfach preisgekrönte Roman-, Drehbuch- und Theaterautorin), Maggie Humbert (Tourmanagerin, u. a. von Fettes Brot), Markus Kavka (Moderator, Autor, DJ), Matthias Hornschuh (Film- und Medienkomponist, Publizist, Hochschullehrer), Matthias „Mattes“ Penkert-Hennig, Michael Beckmann (Rainbrids, Depp Jones, Filmkomponist), Michael Kraske (Journalist, Autor), Moby, Ole Plogstedt (Rote Gourmet Fraktion), Oswald Henke (Goethes Erben), Ralf Donis (Think about Mutation, DJ, Entertainer), Ray Davis (Tourmanager, u. a.: ECHT, Tokio Hotel, The BossHoss, Gentleman, Joy Denalane), Rob Solomon (The Busters, Farin Urlaub Racing Team), Robert Handrow (DJ Booga), Robin Thiesmeyer (Meta Bene), Ron Schöne, Ronja Schwikowski (Plastic Bomb), Sandra Strauß, Schwarwel, Sebastian Krumbiegel (Die Prinzen), Sebastian Tippe (Dipl.-PĂ€dagoge & Kinderschutzfachkraft, Autor), Shirley Manson (Garbage), Stefan Fabich (Full Speed Ahead, Krankenpfleger in der Psychiatrie), Steffen Volkmer, Stephan Michme (SCYCS, Moderator), Sven Kabelitz, Thore Vollert (Lizenzagent, Musikjournalist, Produzent), Timo Wuerz, Tobi Dahmen, Tobias Ginsburg, Tobias PrĂŒwer (Journalist), Torsun Burkhardt (Egotronic), Vic Vais und Yvonne Ducksworth (Jingo de Lunch)

Versandkosten aufgrund der Dicke und Schwere des Buches: 5,00 EUR im Inland.


Das Interview gibt es hier als .pdf

Sandra: Gebt ihr beide oft zusammen Interviews?

Ines: Gelegentlich.

Mark: Aber nicht oft. Meistens konzentrieren sich die Leute aus unerklĂ€rlichen GrĂŒnden auf mich. Frauen sind scheinbar manchmal unsichtbar. Ich weiß auch nicht warum.

Ihr tragt beide seit Jahrzehnten schwarz und seid seit vielen Jahren auf dem WGT, die letzten Male auch inkl. Moderation. Beim Amphi-Festival bist du, Mark, schon lange als Moderator tĂ€tig. Was ist fĂŒr euch das Gothic-Feeling?

Ines: Das, was jeder sagt: „Endlich normale Leute.“

Mark: Das habe ich eingefĂŒhrt!

Ines: Es ist tatsĂ€chlich viel angenehmer, in einer Gothic-Umgebung zu sein, weil man einfach frei ĂŒber etwas reden kann, das auch mal nicht so schön ist und einen belastet. Beim Thema Psyche sind Gothics einfach sehr viel offener. Ich habe noch keinen Gothic erlebt, der ein Geheimnis daraus gemacht hat, wenn er mal in Therapie war. In der „normalen“ Gesellschaft halten das alle eher geheim. Gothics sehen das nicht als SchwĂ€che, sondern als etwas, das man fĂŒr sich selbst macht.

Mark: Es ist tatsĂ€chlich die letzte Fackel des Nichtkommerzialisierbaren. Jetzt kommt Live Nation und kauft die ganzen VeranstaltungsstĂ€tten auf. In den nĂ€chsten zwei, drei Jahren werden die Ticketpreise unglaublich hoch sein. Die Gothics – außer dem Grafen, der ein Star werden und einen großen Plattendeal haben wollte – lassen sich nicht so leicht hinbiegen und sind deshalb nicht so gut zu vermarkten. Der Graf musste oder wollte dann seine Kontaktlinsen rausnehmen und andere Inhalte singen. Die anderen Bands, die ich kenne, die auch gerne reich(er) und berĂŒhmt(er) werden wollen, wĂŒrden sich nicht so verĂ€ndern oder reinreden lassen. Dadurch sind die Veranstaltungen nicht gewollt chaotisch, sagen wir mal wie in einer Punkkneipe, sondern da ist dieses flirrende Fledermaus-artige, scheinbar chaotische Durcheinander noch möglich und wird sich auch nicht Ă€ndern lassen, weil auch zum Beispiel politische Correctness keine große Rolle spielt. Auf dem WGT laufen alle möglichen Leute mit allen möglichen Einstellungen rum. Es interessiert niemanden, außer du bist jetzt der Mega-Nazi.

Hat sich in der Gothic-Szene die letzten Jahre etwas verÀndert?

Ines: Die ganz junge Generation schmunzelt zum Beispiel darĂŒber, wenn man sich seine eigenen Klamotten nĂ€ht oder umnĂ€ht. Sie haben die Zeit gar nicht mitbekommen, als es noch keine Gothic-LĂ€den gab. Man hat sich Theaterutensilien gekauft, manchmal schwarz umgefĂ€rbt und sich seinen eigenen Umhang gefertigt. Das kennen viele JĂŒngere gar nicht mehr, weil mittlerweile alles frei zur VerfĂŒgung steht. Jetzt gibt es in den Shops alle Stile, die du möchtest. Diese eigene KreativitĂ€t ist ein bisschen verloren gegangen. Die Kleidung ist sehr viel interessanter geworden, weil es auch ein grĂ¶ĂŸeres Angebot gibt, aber die Leute machen es selten selbst.

Mark: Ehrlich gesagt hat sich nicht viel verĂ€ndert. Die Älteren sagen: „FrĂŒher war alles viel besser.“ Blablabla, was alle alten Leute sagen. Ich kann das nicht bestĂ€tigen. Wenn ich zum Beispiel den Auftritt der Patenbrigade: Wolff beim diesjĂ€hrigen WGT mit irgendeinem Festival im Schloss Pulp in Duisburg vergleiche, auf dem Ende der 1990er Jahre [:SITD:] aufgetreten ist, sehe ich ĂŒberhaupt keinen Stimmungs-Unterschied. Alle bringen sich selbst mit. Sie gehen da nicht hin, weil sie etwas sehen wollen. Also so wie: „Ich will einmal im Leben Lady Gaga sehen. Ich will einmal Rihanna sehen. Ich will einmal 
“ Wie heißt die Neue jetzt? Der grĂ¶ĂŸte Star der Welt?

Ines: Taylor Swift.

Mark: „Ich will einmal Taylor Swift sehen.“ Und dann ist es auch egal, wenn das 500 Euro kostet. Das gibt es bei den Gothics nicht. Nehmen wir als Beispiel mal Goethes Erben. Oswald sagte zwischendurch, sie lösen sich auf, aber letzten Endes blieben sie lange da oder sie verschwinden wie zum Beispiel Kiew oder die Leute ziehen um wie bei [:SITD:] und treten dann eher nur bei Festivals auf. Oder Blutengel tritt auch nur zu bestimmten Zeiten auf. Aber die ganze Stimmung ist: Ich bin selbst dort und mache dort, was ich will. Ich gehe nicht hin und folge, nachdem ich schon 500 Euro hingelegt habe, dem, was Konzertveranstalter, KĂŒnstler und KĂŒnstlerin wollen. Das gibt es dort ĂŒberhaupt nicht, sondern die Leute kommen, die Leute gehen, die Leute quatschen. Das kennt jeder, gerade beim WGT. Jeder hat schon ein WGT erlebt, bei dem er oder sie keine einzige Band gesehen hat oder wenn, dann vielleicht beim Trinken am Met-Stand, der im Heido nah genug an der BĂŒhne ist. Die HĂ€ndler und HĂ€ndlerinnen wĂ€hrend des WGTs passen sich auch nur sehr langsam an, weil die Gothics so unterschiedlich sind, und haben dann manchmal auch total bizarre Ideen. Zum Beispiel hatte mal eine Döner-Frittenbude in der Innenstadt alles voll mit Spinnweben – ganz schlecht gemacht, weil sie viel zu dick waren. Das sah eher aus wie eine Mischung aus Schnee und Schwarz. Oder voriges Jahr beim WGT hat ein HĂ€ndler, der vor dem GelĂ€nde eine Suppen-Bude hatte, Runen-Suppe mit Runen-Buchstaben-Nudeln verkauft. Diesen ganzen schrĂ€gen Quatsch gibt es bei den weichgespĂŒlten Profit-Konzernten der Normalos nicht mehr. Wenn du zu „verwertbaren“ Konzerten gehst, gibt es WĂŒrstchen aus Folter-Fleisch, fiese Fritten und das Bier der Brauerei, die am meisten zahlt. Die gestreamlineten, durchkommerzialisierten und kommerzialisierbaren Szenen tauchen so in einer Masse ein und unter. Im Rock und Metal ist das gut erkennbar: Wie leicht wirst du dort erst ins Einheitliche auf- und dann ausgeschlĂŒrft. Die Gothics hingegen fliegen wie Wildbienen erst zu der einen Blume, mögen die auch, saugen ein bisschen Honig und fliegen dann wieder woanders hin, dann pennen sie auch mal Jahre lang und stoßen auf einmal in der Luft mit anderen zusammen. Das hat sich nie geĂ€ndert, wĂ€hrend es sich im kommerzialisierten Bereich jetzt wirklich sehr deutlich Ă€ndert. Dort muss es sauber, ordentlich, clean und komplett vermarktbar sein. Taylor Swift ist das beste Beispiel dafĂŒr. Ich finde sie super und sie macht ihr Ding. Aber von Szene keine Spur. Das Glattwalzen haben ursprĂŒnglich die Plattenfirmen natĂŒrlich schon immer versucht. Von Pink Floyd gibt es sogar ein Lied darĂŒber, wie der Plattenboss noch nicht mal weiß, wie die Bandmitglieder heißen, aber sagt: „Ihr seid die beste Band, ich finde euch spitze. Wer von euch ist noch mal Pink?“ Das gibt es schon immer, doch es hat frĂŒher nicht in dem Maße geklappt, weil es noch getrennt davon Veranstalter, Ticket-Firmen, „stĂ€dtische Betriebe“ und so weiter gab. Das wird jetzt außerhalb der kleinen Szenen alles eins. Deshalb sind Grufti-Festivals eine letzte Bastion, weil sie nicht zu einer Art Hippie-Gedöns verkommen, bei dem sich alte Leute nur noch an ihre Blumenkinder-Zeit erinnern. Dass am Ende der Zeiten ausgerechnet im Gothic mehr Leben und Vielfalt steckt als anderswo, ist ein echter Treppenwitz. Ich rede natĂŒrlich nur von großen Linien. Punks nehme ich sowieso raus, weil das noch ein anderes Thema ist. Manche Metaller haben auch kleine dreckige Konzerte, aber da ist sehr schnell der Vermarktungsgriff drauf, sobald genĂŒgend Fans da sind. Gruftis, und zwar die Fans, sind einfach – im freundlichen Sinne – zu verrĂŒckt. Sie haben keinen Bock auf dieses StĂŒtzkorsett aus gekaufter TrĂ€umerei und geschmierten AblĂ€ufen, das andere Menschen gut finden. Ein gutes Beispiel dafĂŒr ist das Helene Fischer-Konzert im Jahr 2023. Das grĂ¶ĂŸte Konzert, das jemals in Deutschland stattgefunden hat. Hinterher haben die meisten Leute gesagt: „Ja, nee, war super.“ Sachlich gesehen ist es nicht so gut gelaufen. Das lag nicht an der KĂŒnstlerin, sondern an der allzu geölt programmierten Veranstaltung, bei der offenbar niemand an die KrĂ€fte der Natur gedacht hatte. Gothics dagegen können mit Frust ruhig, aber ehrlich umgehen — ich erinnere an krasseste wetterbedingte AusfĂ€lle in BolkĂłw und beim Amphi — oder sagen auch bei gut gemeinten Aktionen ganz offen: „Das und das gefĂ€llt mir nicht.“ Zum Beispiel hat es den Fans beim Amphi-Festival nicht gefallen, dass es mal in einer wirklich schönen Halle in Köln stattgefunden hat. Sie haben solange rumgenervt, bis es dort nie wieder stattgefunden hat. Sie wollen lieber ihr Wildbienen-Chaos am Tanzbrunnen.

Ines: Das Problem dort in der Halle war, dass alles viel zu zentral war. Gothic-Festivals leben davon, dass man diese vielen kleinen PlÀtze hat, an denen du dich zusammenfinden und unterhalten kannst, dass alles ein kleines bisschen zerstreut und verteilt und nicht alles an einem Ort ist. Und das alles gab es beim Amphi in diesem einen Jahr nicht. Das Flair ist ja, dass man auf andere Gruppen trifft und Menschen kennenlernt.

Mark: Ja, richtig, es geht um diese Vermischung und das schwarze Geflitter. Und das hat sich nie verÀndert.

Anfang der 1990er war es noch nicht so „etabliert“, Grufti zu sein. Da hatten die Menschen vor den Gothics mitunter noch Angst, vor den „bösen Satansanbetern“, oder brachten ihnen ihre Abneigung entgegen. Keine Ahnung, welche Klischees da vorherrschten. Und ich musste auch beim Thema Klamotten daran denken, dass wir frĂŒher extra nach Berlin in diesen einen Laden gefahren sind, weil es nur in diesem Springerstiefel oder die hohen Gothic-Boots gab, spĂ€ter dann auch in Leipzig im Werk 2 oder bei Mrs. Hippie. Welche Rolle spielt Musik bei euch im Leben, wie nehmt ihr Musik wahr?

Ines: FĂŒr mich spielt Musik eine große Rolle, aber ich höre nicht nur Gothic-Musik. Ich wĂŒrde es eher verwandt damit bezeichnen. Ich höre auch Hans Zimmer und Psytrance.

Mark: Ich höre eigentlich nur zwei Sachen. Psytrance und Swing aus den 1930/40er Jahren aus England. Ich höre die ganze Zeit immer dasselbe. Ines ist flexibler, sie hört auch Empfehlungen von Amazon Music. Das habe ich nicht, und neuerdings stelle ich als DJ fast nur noch neue Dinge von Ines vor, zuletzt bei der Eröffnung des WGT und im KitKatClub in Berlin. Klappt super.

Ines: Ja, ich habe mehrere Playlists und die sind kunterbunt durchmischt, auch moderne Popmusik. Und dann lasse ich Amazon einfach mal aussuchen. Das ist Ă€hnlich wie Spotify. Mark: Sachen, die ich höre, könnte man auf einem Gothic-Festival ĂŒberhaupt nicht auflegen. Wenn ich auflege, dann eher super Electro-lastige, krasse, schnelle Sachen. Wir beide hören den ganzen Tag Musik. Ich allerdings nur im Labor, Ines immer per Kopfhörer.

Nebenbei?

Mark: Ja.

Ich kann bei manchen TĂ€tigkeiten ĂŒberhaupt keine Musik bewusst hören, beispielsweise wenn ich Buchhaltung machen muss oder Mails schreibe.

Ines: Wenn ich mich auf Buchhaltung konzentrieren muss oder programmiere, dann muss es bei mir auf jeden Fall Psytrance sein. Es darf dann auf keinen Fall Gesang dabei sein und keine schnellen Wechsel von Rhythmen. Psytrance-Sachen helfen mir sogar beim Konzentrieren.

Mark: Viele knĂŒpfen gern GefĂŒhle an Musik und hören sie deshalb. Bei uns soll es eher bei der Arbeit einen Hintergrund-Teppich oder einen Kokon bilden.

Ines: Es ist unser weißes Rauschen.

Ist es so, dass viele Menschen durch Musik GefĂŒhle hervorrufen lassen wollen? Mir kommt es mitunter auch so vor, dass einige sich mit 50 durch Musik immer noch an die Zeit erinnern wollen, als sie jugendlich waren.

Mark: Man sieht es an den Radiosendern in Hotels. Da lĂ€uft Tag und Nacht 1980er Jahre-Musik, weil sich viele an eine Zeit, die fĂŒr sie angeblich besser war, erinnern wollen. In den kleinen, alten, familiengefĂŒhrten Hotels, in denen wir öfter sind, gibt es kein FrĂŒhstĂŒck, bei dem nicht „das Beste aus den 1980ern“ lĂ€uft. Ich habe zu allen möglichen musikalischen Richtungen GefĂŒhle und ich mag es nicht, wenn man so in der Zeit stehen bleibt. Ich schaue lieber nach vorn anstatt zurĂŒck.

Ines: Das ist bei mir ganz genauso. Ich mag auch lieber neue Musik-Erfahrungen machen. Bei Musik habe ich wirklich alles dabei.

Mark: Nee, haste nicht, du hasst Hip-Hop.

Ines: Ich meine jetzt vom GefĂŒhl und der Art her, was man aus der Musik zieht. Also ich habe Musik, die als weißes Rauschen dient. Weißes Rauschen ist ja eigentlich etwas, das man nachts anmacht, damit man irgendein GerĂ€usch hat, das einen beruhigt. Die Musik ist manchmal fĂŒr mich so eine Art weißes Rauschen, damit ich mich ganz auf Sachen konzentrieren kann. Dann gibt es Musik, die mich aktivieren soll, wenn ich den Haushalt oder Sport machen will. Dann wĂ€hle ich Musik aus, die die AktivitĂ€t fördert, schnellere Wechsel hat und ein bisschen mehr Bass. Dann habe ich Musik, bei der ich mich einfach nur entspannen will, und wenn ich weiß, dass ich mich nicht konzentrieren muss. Dann habe ich gerne etwas, das GefĂŒhle auslöst. Es gibt Musik, die Trauer oder auch Fröhlichsein, das gesamte GefĂŒhlsspektrum, abdeckt. Und ich muss das nicht durch den Text haben, sondern es geht bei mir auch durch die Musik generell, wie die Musik klingt. Ich kann gar nicht sagen, wofĂŒr ich Musik benutze, weil ich Musik fĂŒr alles benutze.

Mark: Es gibt im Gothic-Bereich auch eindrucksvolle Beispiele, bei denen sich vor allem jĂŒngere Gothis zum ersten Mal im Leben durch Lieder verstanden fĂŒhlen, wo sie sonst keiner versteht. Dazu zĂ€hlt „Illusion“ von Ronan, also VNV Nation, und „Wir sind die Nacht“ oder „Krieger“ von Blutengel. Es gibt also auch noch ganz andere GefĂŒhle, die da - ran gekoppelt werden, nĂ€mlich das GefĂŒhl, verstanden zu werden. Ines: Oder das GefĂŒhl von Bindung bei „Love Me To The End“ von Deine Lakaien. Da ist dieses KerngefĂŒhl einer Bindung zu einem Menschen, den man gerne hat, sehr gut zu spĂŒren.

Unterscheidet ihr zwischen Inhalten und Musik? Hört ihr Musik auch bewusst wegen den Texten?

Ines: Ja, beispielsweise „Love Me To The End“ könnte ich allein schon wegen dem Text hören. Und manchmal treffen mich einfach nur Textzeilen sehr tief.

Mark: Es kann einen auch zufÀllig erwischen.

Ines, nimmst du Musik als Autistin anders wahr?

Ines: Ich weiß ja nicht, wie andere es wahrnehmen. Was ich bei anderen autistischen Menschen wahrgenommen habe, ist, dass Musik tatsĂ€chlich sehr starke GefĂŒhle aus - lösen kann. Bei neurotypischen Menschen geht ihnen eher der Text oder die Erinnerung nahe und bei Autisten kann einfach die Musik an sich so ĂŒberwĂ€ltigend sein, dass man an - fĂ€ngt zu weinen. Ich habe das hĂ€ufiger.

Mark: Und warum lachst du mich dann im - mer aus, wenn ich im Kino heule?

Ines: Ich lache dich aus, weil du es immer abstreitest. Ich frage immer: „Weinst du schon wieder?“ Und du: „Nein, nein, nein.“ Mark: Das mit den manchmal nicht ganz eindeutigen, aber starken GefĂŒhlen, geht sicher den meisten Menschen bei Musik so.

Ines: Ja, und deshalb habe ich auch gesagt, dass es oft Erinnerungen oder der Text selbst sind, weswegen sie weinen. Ich kann einfach nur bei akustischen StĂŒcken weinen, zum Beispiel bei der „Mondscheinsonate“ und bei Orgelmusik.

Was ist euch bei Musik noch wichtig?

Ines: Ich stelle dazu im Netz immer gern Zuschauer- oder Leserfragen. Was ist wichtiger fĂŒr die Gothic-Kultur? Das, was auf Musik oder auf Literatur basiert? Eigentlich ist Gothic ja aus der Literatur geboren und identifiziert sich mit Steampunk, Jules Verne, Dracula 
 Ist es also literarisch oder musikalisch stĂ€rker geprĂ€gt? Was war zuerst da? Das ist natĂŒrlich eine reine Meinungsfrage, was einen selbst mehr beeinflusst hat.

Mark: Dazu passt ergĂ€nzend: Wie konnte sich nur in der Gothic-Kultur Literatur, Musik und avantgardistische Klamotten, gepaart manchmal mit High und Kinky Fashion, so wunderschön vermischen? Stilistisch, stimmungs- und gefĂŒhlsmĂ€ĂŸig, musikalisch 
 Und was sind die bestimmenden PersönlichkeitsfĂ€rbungen und -eigenschaften von Gothics?