Ich liebe die Traurigen

Quelle: ORKUS! Nr. 6 (Juni) 2018, Seiten 24 bis 26

Mark Benecke im Gespräch mit Michael Kunze, den Autor von Tanz der Vampire

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Michael Kunze ist nicht nur Autor beispielsweise der Musicals Tanz der Vampire und Elisabeth, sondern er schrieb und produzierte auch Lieder für Schlager-Stars, darunter Caterina Valente, Mary Roos, Juliane Werding, Münchner Freiheit, Peter Alexander (Die kleine Kneipe), Jürgen Drews (Ein Bett im Kornfeld) sowie die mit Abstand besten Songs von Udo Jürgens Der Teufel hat den Schnaps gemachtGriechischer WeinEin ehrenwertes HausIch war noch niemals in New York und 5 Minuten vor 12.

FOTO: Alexander Christoph Wulz

FOTO: Alexander Christoph Wulz

Sehr empfehlenswert ist auch sein allgemein verständliches Buch Straße ins Feuer. Vom Leben und Sterben in der Zeit des Hexenwahns, das den Weg der Familie Pappenheimer in den Tod beschreibt. Es beruht auf seiner juristischen Doktor-Arbeit, ist aber, immer entlang der Dokumente, wie ein Roman geschrieben.

Angeregt von einer ahnungslosen Besprechung im Kölner-Stadt-Anzeiger über die Premiere des f Tanz der Vampire in Köln im Februar 2018, beschloss ich, mit Michael Kunze über seine Arbeit zu sprechen.

Meine Freude war unbeschreiblich, dass er sich mitten in der Vorbereitung mehrerer Projekte im März 2018 Zeit dafür nahm.

Lieber Michael Kunze, wie fühlen Sie sich eigentlich so erkennbar gut in ganz unterschiedliche Inhalte wie beispielsweise in den Texten zu den Muscials Elisabeth, Tanz der Vampire, König der Löwen oder Luther ein?

Ich recherchiere oder beschäftige mich mit den Charakteren lange und intensiv, bevor ich einen einzigen Satz schreibe. Meine Figuren sprechen zu mir und protestieren, wenn ich ihnen Worte in den Mund lege, die sie nicht sagen würden.

Wenn ich schreibe, schreibe ich gewissermaßen "von innen heraus", indem ich mich in meine Figuren hinein versetze.

Als Kriminalbiologe bin ich vielleicht ein wenig emotionsgemindert, und mir scheint es — vielleicht deswegen — auf den ersten Blick keine übergreifende Klammer zu geben, die Ihnen in Ihren Texten gleichsam am Herzen liegt. Bitte helfen Sie mir.

Alle meine eigenen Musicals erzählen vom Erwachsenwerden. Darunter verstehe ich, dass jemand lernt, Verantwortung zu übernehmen. Das ist mehr als "Selbstverwirklichung", setzt diese aber voraus.

Das Thema habe ich mir nicht vorgenommen, ich habe erst nachträglich bemerkt, dass es das ist, was mich an einem Stoff fesselt. Ich kann nur eine Geschichte erzählen, die ich selbst für erzählenswert halte, und deren Entwicklung mich selbst fasziniert. 

Ich denke, den Menschen begegnen gewissen Widrigkeiten und Probleme, damit sie etwas daraus lernen. Dieser Lernprozess ist es, der mich an einer Geschichte interessiert.

Sie sagen ja in Interviews ganz richtig, dass Musicals — und Musik überhaupt — Menschen oft besser zusammen bringen als es politische Diplomatie kann. Welche möglicherweise ganz grundsätzlichen Werte sollen nach ihrem Willen in ihren Werken durchschimmern?

Meine Geschichten sollen auf keinen Fall moralische Lehrstücke sein. Es geht immer um das konkrete Problem einer oder mehrerer Handelnder.

Aber wie dieser oder diese sich in einer schwierigen Situation verhalten oder das Problem lösen, erfordert meine Stellungnahme, wenn nicht gar meine Entscheidung.

Auf diese Weise fließen meine Wertvorstellungen ein. Diese sind unter anderem die persönliche Freiheit, der Mut zur Unabhängigkeit, die Stärke der Schwachen, die Kraft von Ideen, Neugier auf Unbekanntes und der Respekt vor Andersdenkenden.

Schon in Liedern wie dem Ehrenwerten Haus (1974) oder Ich war noch niemals in New York (1982), die durch Udo Jürgens bekannt wurden, nun aber auch im Tanz der Vampire, findet sich eine zarte Melancholie, die auch in Elisabeth durchschimmert. Haben Sie ein Herz für melancholische Charaktere und Lebenswege oder sind diese einfach dramaturgisch besonders ergiebig?

O ja, ich liebe die Traurigen. Als Erzähler, weil sie meist etwas Erzählenswertes erlebt haben, als Beobachter, weil seelische Wunden den Blick für das Wesentliche öffnen, als Mensch, weil ich die Schwachen mehr liebe als die Starken.

Ihre Werke decken mittlerweile Jahrzehnte ab. Die Welt hat sich verändert. Ist es schon passiert, dass Sie durch Rückmeldungen aus dem Publikum oder die Stimmung während Aufführungen bemerkt haben, dass ihre Texte eine neue, erweiterte Bedeutung erhalten oder eine alte Bedeutung zurück gewonnen haben?

Es kommt gelegentlich vor, dass man mich in der Pause oder nach einer Aufführung anspricht. Meist höre ich dann ein Lob oder ein Dankeschön, über das ich mich freue. Einzelne Texte werden eigentlich nie kommentiert.

Doch ich merke in der Vorstellung an den Reaktionen des Publikums, ob und wie stark ein Text das Publikum erreicht. Zum Beispiel „Unstillbare Gier“ in „Tanz der Vampire“. Der Text ist nach dem Bankencrash von 2009 aktueller geworden, er wird jetzt besser verstanden. Ähnliches gilt für „Ich gehör nur mir“ aus „Elisabeth“. Jede Frau begreift ihn heute als Emanzipationshymne.

Das ist nachvollziehbar. Im Tanz der Vampire kommen neben bäuerlichen Derbheiten auch lateinische Passagen, professorale Eitelkeiten, eine wunderschöne Autoren-Liste von Aeneas über Humboldt, Kierkegard, Hans Sachs und Mary Shelley in der Vampir-Bibliothek sowie viele weitere kluge und schöne Feinheiten vor.

Dr. Erika Fuchs hat eine solche Anpassung des Textes an die Charaktere jahrzehntelang in der Welt der Comics durchgeführt und wird dafür, auch nach ihrem Tod, von Fans und Feuilleton gleichermaßen verehrt. Nun arbeitete sie aber im Print, nicht mit Musik. Wie und auf welche Weise passen Sie in Musicals Ihre Texte dem Bildungsgrad der Figuren an?

Ich schreibe die Texte meiner Figuren, wie gesagt, von innen heraus. Deshalb entsprechen sie selbstverständlich der Mentalität, dem Charakter und dem Bildungsstand der jeweiligen Person. 

Ich habe oft erlebt, dass selbst kluge Leute die Aussagen meiner Figuren mit mir identifizieren. So hat mir nach der Premiere von Elisabeth eine Wiener Zeitung vorgeworfen, ich sei naiv, weil eine meiner Figuren in dem Stück sehr naive Vorstellungen von der Regierungsarbeit äußert.

FOTO: PATRIC FOUAD

FOTO: PATRIC FOUAD

Eine ähnliche Fehldeutung findet sich ja auch in einer Besprechung des Kölner Stadt-Anzeigers zur Premiere des Tanz der Vampire in Köln. Woher stammt eigentlich — wie schon in der populären Version ihrer Pappenheimer-Studie Straße ins Feuer. Vom Leben und Sterben in der Zeit des Hexenwahns (1982) — ihre Freude daran, normale Menschen mit normaler Bildung zu informieren und zugleich merklich zu faszinieren? Oder anders gefragt: Was hat sie weg von der drögen Fachlichkeit in die "wahre" Welt gezogen?

Ich liebe Menschen und respektiere sie, unabhängig von ihrer Herkunft und Bildung. Sogenannte „Intellektuelle“ sind oft voll Dünkel und Vorurteilen und verhalten sich oft dümmer als Menschen, deren Handlungen von Herz und Gewissen bestimmt werden.

Das war das Thema meines Buches „Straße ins Feuer“: Die Ungebildeten fürchteten sich vor Hexen und Zauberern, aber sie sahen Menschen ins Gesicht und wussten, was sie von ihnen zu halten hatten. Doch die Juristen entwickelten eine Dogmatik der Hexerei. Sie unterdrückten ihre Gefühle und folterten „rational denkend“ aus Unschuldigen Geständnisse heraus, um den Tatbestand eines Verbrechens zu konstruierten.

...und Sie fühlen sich dabei so gut ein, dass sie aus dem Quellen-Material zu den Pappenheimern sogar einen Roman schreiben konnten. Können sie sich auch im Tanz der Vampire mit einer der Figuren besonders identifizieren? Oder steckt in allen Figuren — jenseits des brillianten Librettisten — etwas von Ihnen?

Die Figuren habe ich aus dem adaptierten Film übernommen. Darin waren sie aber nur als Typen gezeichnet, denn der Film verstand sich als Parodie.

Ich hatte die Aufgabe, die Charaktere zum Leben zu bringen. Dabei floss natürlich viel von meiner Sichtweise, meinen Vorlieben und Fehlern in sie ein. Ich mag alle diese Figuren, vielleicht deshalb. In jeder steckt ein Stück von mir. Im Professor mein Hang zum Dozieren, in Krolock meine Lust an der Provokation, in Alfred meine Ängste, in Sarah meine Neugier auf Unbekanntes und so weiter.

Gegen Unbekanntes und Ängste möchte die reine Wissenschaft antreten. Vertrauen Sie im Alltag dem Exakten und auch in Ihrem Stück so genannten "Positiven", also dem experimentellen Beweis? Oder halten Sie diesen für einen unsere Welt unzureichend beschreibenden Weg?

Für mich gibt es diese Trennung von Verstand und Intuition nicht. Das zeigen alle meine Musicals, aber auch viele meiner Songtexte, etwa „Stimmen im Wind“ oder „Das Würfelspiel“. Realität besteht für mich untrennbar aus dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren – das eine ist mit dem anderen verbunden.

Seit Kant meinen die Gebildeten, das intelligible Erkennen sei strikt zu trennen von der experimentell erfahrbaren Welt. Diese Ansicht ist obsolet. Hirnforschung und Atomphysik haben „experimentell“ gezeigt, dass die beiden Bereiche letzten Endes ineinander übergehen. Jede Bäuerin hat das schon immer gewusst: Es gibt eine Welt hinter der Realität, die wir nicht begreifen.

Authentische Kunst ist fähig, sie erahnbar zu machen. Ich halte mich nicht für einen großen Künstler, aber ich hoffe, dass mir das auch ab und zu gelingt.

Zum Abschluss: Haben Sie als Kind an Geister, Hexen oder Vampire geglaubt?

Ich habe nie an Hexen oder Vampire geglaubt. Auch nicht in der Kindheit. Ich denke aber, dass manche Verstorbene nicht so tot sind, dass sie jeden Kontakt zu den Lebenden unterlassen. Es klingt verrückt, aber ich mache diese Erfahrung fast täglich. 

Ich arbeite derzeit an der Biografie von Rudolf von Jhering, einem Juristen aus dem 19. Jahrhundert, und habe das sichere Gefühl, dass Jhering mich dabei beobachtet, zuweilen auch in meine Arbeit eingreift. Vielleicht nichts als eine verrückte Illusion, aber ich genieße diesen Kontakt.

Haben Sie vielen Dank für die Einblick in Ihre Arbeit und Ihr Denken.

Danke für die inspirierenden Fragen.

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