Quelle: Rechtsmedizin Band 27, Heft 3 (Juni 2017), Seiten 229 bis 230
New Orleans, 13.-18. Februar 2017
VON MARK BENECKE
Das Motto der thematisch wie stets stark gemischten, teilnehmer/innenstarken Tagung lautete diesmal 'Our Future Reflects Our Past: The Evolution of Forensic Science'. Grund: Die Kolleg/innen in den USA stehen nach schweren Problemen wie der Feststellung, dass die Haar-Untersuchungen des FBI lange ungenügend waren, aber auch wegen erhöhter Standards bei Sektionen (einige Coroner / Medical Examiner lagern ihre Sektionen wegen des erhöhten Aufwandes bereits teils in die Pathologie aus) vor eben ‘evolutiven' Schritten.
Zur Eröffnung der Tagung stellten daher mehrere past presidents die wichtigsten Ereignisse während ihres jeweiligen AAFS-Leitungjahres vor. Anders als aus Europa bekannt, war dies keine vorwiegend historische Rückschau, sondern ein struktureller Rückblick mit Abwägung und Bewertung wünschenswerter und erreichbarer Ziele, vor allem der Vernetzung zu (hohen) politischen Ebenen sowie effektiver Lobby-Arbeit — beides in Zentraleuropa in unserem Fach praktisch unbekannt. Eine weitere Initiative, auch einiger past presidents, ist eine forensische Academy, die Standards vermitteln und Trainings anbieten soll; dies wohl in Anlehnung an die FBI Academy, die ebenfalls Kurse beispielsweise zu Fotografie, der Spurensicherung aus flachen Gräbern und so weiter anbietet.
Interessante Abweichungen vom jahrzehntelang Üblichen fanden sich in Details der Programmgestaltung. So wurden beispielsweise Vorträge einiger ausländischer RednerInnen — beziehungsweise Fallberichte aus dem Ausland — in die Abendsitzung 'Criminalistics — Believe it or not' verlagert. Neben dem italienischen AnthropologenMatteo Borrini, der bei rätselhaften Befunden aus dem Bereich weniger bekannter Religionen auch die Glaubenskongregation des Vatikans berät, wurden auch die Kollegin Eva Brenčičová aus der Schweiz (Suizid mit zwei Schusswaffen in einem Auto), Mehdi Moini aus Washington (Razemisierungs- und Deamidierungsgrad bei gefälschter Seide) sowie der Berichterstatter (Insektenbefunde an Hunderten Mumien aus Palermo) in diese Session gelegt.
Solche Abendsitzungen, derer es an drei Tagen täglich eine gab, waren trotz ihres späten Endes (erst um 22 Uhr) gut besucht und zogen die Tagungsteilnehmer/innen sektionsübergreifend an. Bedenkt man, dass morgendliche Veranstaltungen teils bereits um 7 Uhr morgens begannen, und dass auch zum Frühstück und Mittagessen forensische Seminare buchbar waren, so wird der Arbeitswillen der Kolleg/innen aus den USA deutlich. Dies umso mehr, als vor den Türen des Tagungshotels und in der Altstadt, dem French Quarter, durchweg der nordamerikaweit bekannte Mardi Gras-Karneval tobte. Einige Teilnehmer/innen erschienen sogar mit den typischen “beads”, bunt glitzernden Perlenketten aus Plastik, auf der Tagung. Die wenigen deutschsprachigen Teilnehmer/innen, darunter auch die Kollegen Schyma und Thali, stammen glücklicherweise aus Regionen, die dergestalte kulturelle Ausnahmesituationen kennen.
Als sehr vernünftig angelegt erwies sich ein komplett eingeschalteter Kongresstag des 'National Institute of Justice' (N.I.J.) am Tagungs-Dienstag mit Schwerpunkt auf molekularen Themen. Hier stellte Kollegin Amina Bouslimani beispielsweise ihre erfolgreiche, bereits veröffentlichte Arbeit zur Charakterisierung von Medikamenten, Kosmetika und derer Abbauprodukte auf Alltagsgegenständen vor, die der Ableitung von Lebensgewohnheiten der Besitzer/innen der Geräte dient.
Das Besondere der AAFS-Tagung ist die Vielfalt der Vortragsthemen. In der Sektion Forensische Odontologie berichtete beispielsweise die französische Kollegin Gwenola Drogou aus Ploemeur von der Logistik und ihrer zahnärztlichen Identifizierungsarbeit nach dem Absturz des deutschen Fluges 4U9525 in den Trois Evêchés. In der Abendsitzung 'Bring Your Own Slides' berichtete der ehemalige Leiter des Chief Medical Examiners aus Manhattan, Michael Baden, über Sichelzellanämiker, deren genetische Besonderheit fehlerhaft als Todesursache angenommen werden kann. Kollegin Tracey berichtete vom unerwarteten Befund nach der Ausgrabung (in einem Vorgarten) einer sehr gut erhaltenen Leiche aus dem 19. Jahrhundert, die noch deutliche Spuren der Pocken aufwies und die Frage der Haltbarkeit und des plötzlichen Wiederauftauchens des als ausgerottet beschriebenen Erregers aufwarf.
Weitere Vorträge befassten sich mit Markern zur Altersbestimmung von Blutspuren, Oxytocinspiegeln bei forensisch-psychiatrischen Patient/innen und Gewalttäter/innen, dem neue Feld der Bakterien auf Leichen, die mit Massendurchsatzmethoden nun charakterisiert werden können und es damit bis zu einem Fachartikel in der Science geschafft haben, Lippenabdrücken als Identifizierungsmethode in Senegal, Delikten mit ausgegrabenen Leichen in den USA, denen Botschaften für das Totenreich mitgegeben wurden, Seepocken auf Schuhen im Wasser zur Altersbestimmung sowie zahlreichen weiteren Studien, darunter selbstverständlich auch aus den „trockeneren“ Bereichen wie der DNA-Analytik. Außerdem wurde ein Fall dem Fall einer nur zwölf Jahre alten Psychotikerin vorgestellt, die durch digitale Folklore den Glauben an den im angloamerikanischen Raum weithin bekannten “Slender Man” übernahm und ihre Freundin daraufhin mit neunzehn Messerstichen tötete, um die Fantasiefigur zu beeindrucken.
Unerwartet war die Ergänzung der für alle Teilnehmer/innen üblichen, großen Klebe-Markierungen am Namensschild (“First Meeting”, “Speaker” usw.) um die von der Sektion Forensische Anthropologie in Regenbogenfarben gestaltete, gleichsam offizielle Markierung “Celebrate Diversity”, die unter der Hand verteilt wurde. Die aktuellen politischen Spannungen sickerten an dieser Stelle durch; anderswo war während des Kongresses keine Silbe davon zu vernehmen. Auffällig war immerhin der (finanz)politisch bedingte, kommentarlose Ausfall mehrerer Vorträge, darunter die angekündigte, aber gestrichene Schilderung der Ergebnisse der Nachuntersuchung des schon erwähnten Versagens des FBI-Haarlabores.
Zum zweiten Mal innerhalb von zehn Jahren — erstmals im Jahr 2005, als der Leiter der Rechtsmedizin aus New Orleans von den Zerstörungen durch den Sturm „Katrina“ berichtete — war zudem eine tiefe emotionale Beteiligung eines Redners zu spüren: Der Mitarbeiter eines der größten U.S.-Labore für Toxikologie berichtete von den innerhalb von nur drei Jahren nach seiner Mitteilung mittlerweile mindestens hunderttausend (sic) Opfern der Heroin-Verunreinigung durch “747-Fentanyl” (wegen der im Vergleich zu Heroin stark erhöhten Giftigkeit wurde es nach diesem wuchtigen Flugzeugtyp benannt).
Da das French Quarter in New Orleans zumindest die Überflutungen durch Katrina überstanden und mittlerweile wieder ein lebhaft ausgebautes Gebiet darstellt, konnten die Tagungsteilnehmer zuletzt örtliche Artefakte der Voodoo- und Vampir-Subkulturen erwerben, die aus historischen und filmischen Gründen dort ein Zentrum finden. So traf der entspannte Umgang der Menschen in New Orleans mit den Wirren der Zeit auffallend auf die sich in den USA merklich verändernde, im Kern eher konservative Disziplin der Forensik, die sich derzeit von Innen erneuert.