2003 SeroNews: Marrakesch, Stadt der Innovation und Schlitz-Ohren
Quelle: SeroNews 8(3):90-92 (2003)
Marrakesch, Stadt der Innovation und Schlitz-Ohren
Von Mark Benecke
Um der - räusper - etwas traditionell ausgerichteten Mittelmeer-Societé für Rechtsmedizin und forensische Wissenschaften ein frisches und international ausgerichtetes Gegenstück beizustellen, beschlossen die dortigen Professoren, eine mediterrane Academy zu gründen. Auftakt dazu war ein Kongress, der den zentraleuropäischen Bericht-Erstatter mal wieder staunen ließ. Nicht nur der längste Beamer aller Zeiten (Abb. 1) fand sich im riesengroßen Palais du congrès (Abb. 2) sondern auch die TeilnehmerInnen waren superlativ: So lauschten nicht nur WissenschaftlerInnen, sondern auch hunderte (!) BeamtInnen der Sureté und der Gendarmerie Royale den Vorträgen.
Einige Vortragende durften sehr ausführlich erklären, worum es in ihrem Gebiet eigentlich geht. Den Vogel schoss Special Agent Mark Safarik ab. Er war mal Cop und ist jetzt derjenige Profiler des FBI, der die meisten Serientäter-Fälle vor Gericht vertreten hat.
Anfangs tönte gegen seine Fall-Beispiele, etwa zum Thema staging (bewusst irreführende Pose der Leiche) vs. displaying (Lage der Leiche bildet deutlich das Täter-Verhalten ab), noch Protest: "So etwas" -- vaginal eingeführtes Gewehr, Vergewaltigung sehr alter Frauen etc. -- komme zumindest in muslimischen Ländern nicht vor . Während Safarik korrekt konterte, es gehe im Vortrag um kriminalistisches Denken und nicht um den Einzel-Fall, habe ich privatissime meine Öhrchen gespitzt. Dabei stellte sich heraus, dass beispielsweise die hohe Anzahl von Selbst-Erhängungen in manchen muslimischen Ländern gerne als Suizid oder Unfall durchgeht, weil autoerotische Unfälle nicht geschehen sollen. Sei´s drum, der Special Agent hatte auch noch abgetrennte Köpfe im Angebot (Abb. 3), die ohne Murren des Auditoriums durchgingen.
Um die BestatterInnen, PräparatorInnen und RichterInnen unter den SeroNews-LeserInnen nicht mit den ebenfalls verhandelten Themen DNA, Toxikologie und Labor-Standardisierung zu langweilen, will ich noch eben schildern, wie sich ein Tag in Marakeschs Innenstadt darstellt.
Wie immer habe ich versucht, dort zu sein, wo kein normaler Mensch hingeht und bin einfach in eine Richtung gelaufen, in der weder ein Markt noch Sehenswürdigkeiten zu erwarten waren. Das brachte mich unter anderem in eine angebliche Berber-Apotheke (fast alle Substanzen vom Orangen-Öl bis zum Moschus waren gefälscht, d.h. synthetisch hergestellt) und in eine Leder-Gerberei (Abb. 5). Dort stapelte sich mit Indigo (blau), Henna (rötlich) oder Vogel-Federn (grau; Abb. 6) gefärbte Ware wortwörtlich bis unter die Decke und entwickelte auch bis dorthin die uns von Faul-Leichen wohl bekannten Gerüche. Daneben lud die Rocky-Horror-Fahrschule zur Probe-Fahrt (Abb. 7).
Für meine Ausflüge musste ich natürlich mehr als reichlich Lehr-Geld zahlen. Dem Teppich-Keller eines fiesen Händlers entkam ich zwar mit dem Hinweis darauf, dass ich hier für die Polizei arbeite, der Aufseher der Leder-Fabrik war aber schlauer. Er schleppte mich einfach in eine einsame Gasse am Ende der Stadt, bis ich das von ihm unter Geheule und Schimpfen geforderte, jenseits aller Vorstellungskraft liegende Lösegeld abgedrückt hatte.
Auch den fürchterlich netten Kerl "aus meinem Hotel", der kurz darauf rein zufällig auf der Straße auftauchte, wurde ich nur los, nachdem ich ihn streng fragte, welches Hotel das denn wohl sei. Das wusste er natürlich nicht, denn er war der Sohn eines weiteren Teppich-Händlers, der "garantiert antike" Berber-Teppiche "auch an den Palast verkaufe". An welchen Palast? Äh, na, an den Palast!
Im Übrigen herrschte allgemein große Erleichterung darüber, dass der König einen Sohn geboren hatte (Abb. 8). Die Anmerkung, dass doch eher dessen Frau darnieder gelegen habe, wurde mit mildem Lächeln bedacht. Wichtig sei zudem, dass nun nicht die prospektiven Söhne des Königs-Bruders die Erb-Linie fortsetzen. Ob mit dem Bruder irgend etwas nicht stimme, mochte erneut niemand beantworten (Fotos des verstorbenen Königs und seiner Söhne: Abb. 9).
Ansonsten klappte alles wie am Schnürchen, und sogar der Wunsch nach arabischen Teilnahme-Bestätigungen wurde erfüllt, obwohl das die unlösbare Diskussion lostrat, ob „Benecke“ mit oder ohne Pünktchen geschrieben wird (Abb. 10).
Der nach Ende des Kongresses sichtlich erleichterte Präsident Prof. Louahlia (Abb. 11, mit seiner Gattin) gab kurzerhand sein Amt weiter und ließ entgegen der in Deutschland üblichen Fest-Abende lieber kräftig die Hüfte kreisen (mit einer Bauch-Tänzerin). Danach spendierte er eine 6-Liter-Pulle süßlichen Blubberlutsches (Abb. 12).
Dass ich im Laufe des Abends mehrfach nach les bon amis Wolfgang Huckenbeck und Prof. Madea gefragt wurde und den Tisch zudem mit der FBI-Chefin für Frankreich samt Gebieten Afrikas teilte, ging allerdings im wilden Gedudel von syrischen, marokkanischen und tunesischen Musiken unter. Salam! Die Welt ist wild und schön.