Amsterdam entzaubert

Quelle: Tätowiermagazin 7/2015, Seite 128
Kolumne mit Mark Benecke

Ein Ausflug zu »Tattoo-Peter«, einem Tätowierstudio in der Nähe des Amsterdamer Bahnhofs. Hier haben sich die Härtesten der Harten schon ihr Hautbild abgeholt, als Eule, Unendlichkeitsschleife und Tribal noch ein Jahrzehnte entferntes Traumraunen waren.

Das Leuchtturm-Engel-Tattoo auf meinem Bein zieht sich hin. Unter den ernsten Augen von Peters Sohn zaubert der fast zahnlose Tätowierer – und schweigt. »Change the music, or else I need a pillow«, ist sein einziger Satz in vier Stunden. Die Dämmerung bricht heran und das rote Licht in den Grachten lockt meine Frau und mich zu den schweren Jungs und leichten Mädchen.

Was ist es eigentlich, frage ich mich beim Schlendern durch THC-Nebel und Junggesellenschwärme, was die Sexworkerin blitzschnell entscheiden lässt, wer unter den vorbeiziehenden Massen von Männern ein Fünfzig-Euro-Geschäft sein könnte? Und was springt umgekehrt den Kunden bei den Ladys im Fenster ins Auge? Sollten Tattoos da nicht mitentscheidend sein? Stattdessen sehe ich bei den Prostituierten aber mehr Nerdbrillen, die vielleicht einen Studentinnenlook darstellen sollen, als Tattoos auf dem Körper. Mitten im Rot- und Schwarzlichtrummel ist die Hautbilddichte auffallend niedrig.

»Tattoos?«, fragt uns Sexworkerin Ana in gebrochenem Englisch in ihrer pink ausgeleuchteten Koje. »Darauf achte ich nicht. Die Kunden interessieren sich ja auch nicht für meine Tätowierungen. Mich hat noch nie einer von ihnen darauf angesprochen und ich sie umgekehrt auch nicht.« Liegt das totale Desinteresse am Zeitraffer der gekauften Minuten? »Nö«, meint Ana, »ob und welche Hautbilder jemand hat, ist halt die Sache jedes Einzelnen.« Vielleicht dient Anas offensive Gleichgültigkeit dazu, ihre verkaufte Haut – zumindest seelisch – auf Abstand zu den Kunden zu halten. Nobody knows.

»Diese beiden Tattoos hier sind serbische Namen«, erklärt sie immerhin, »aber auf arabisch geschrieben. Das hier ist der Name eines Mannes ... Aber der ist längst Geschichte. Das andere ist mein Familienname. Und diese schwarzweiße Blume auf meinem Bauch soll einfach meine Blinddarmnarbe abdecken.« Das war’s. Von Rock, Roll oder Tattookühnheiten will Ana absolut nichts wissen. »Ich war hier in Amsterdam zwar schon mal in einem Tätowierstudio«, sagt sie, »aber nur zum Rumgucken. Wenn ich mir überhaupt nochmal etwas stechen lasse, dann die Namen meiner Kinder ... Falls ich jemals welche haben werde.«

Tja – so sieht es also aus im Auge des Party- und Sexsturmes: Wo feiernde Jünglinge das Abenteuer ihres Lebens suchen, sehnt sich unsere aus Serbien via arabischer Umwege ans Amsterdamer Grachtenufer gespülte Dienstleisterin nach Ruhe, Schönheit und Familienwerten.

Q. E. D. -- Der Eure

-- Marky Mark